■ Briefe eines Eingeschlossenen – Zweiter Brief
: Ich weigere mich, Angst zu haben

Keiner kann ihm helfen: Dietmar sitzt fest im Keller seines Hauses, umgeben von teurem Wein. Nur seine Briefe dringen nach außen...

Herr Dr. Fincke,

meiner Pumpe geht's gar nicht gut. Möglicherweise liegt es am Wein. Aber noch mehr vermute ich, dass es damit zusammenhängt, dass ich die Tabletten, die Sie mir verschrieben haben, momentan nicht nehmen kann. Mein Körper vermisst schmerzlich den allmorgendlichen Giftcocktail, die bunten Pillen, die wie ein ungezielter Griff in eine Haribo-Tüte aussehen.

Ich wollte mir, wie Sie es mir verordnet hatten, Erholung gönnen. Das hier ist keine Erholung. Ich bin im Keller meines eigenen Hauses eingeschlossen. Wenn ich diesen Satz jetzt schreibe, kommt es mir vor wie ein schlechter Scherz. Aber mein schmerzender Rücken erinnert mich unerbittlich daran, dass ich die letzte Nacht auf einem Betonfußboden zugebracht habe. Sicher haben Sie auch Pillen gegen diese Schmerzen. Und welche gegen meine Magenschmerzen. Ja, zu viel Wein. Es ist zu verlockend, die unangenehmen Gedanken, die sich in meiner jetzigen Situation ganz unweigerlich einstellen, mit Alkohol niederzuhalten. Habe ich Angst? Nein, ich weigere mich, Angst zu haben. Das macht alles noch schlimmer. Ich kann es mir nicht leisten, Angst zu haben. Mein Herz hat schon genug damit zu tun, dieses dreckige Blut durch meine Adern zu pumpen. Wenn es dazu auch noch Angst hat, wird es unweigerlich zögern, stolpern, aus dem Tritt geraten.

Ich halte jetzt strikte Diät. Wein und eingemachte Früchte. Kirschen, Birnen, Brombeeren. Kirschmarmelade, Birnenkonfitüre, Brombeerkonfitüre. Was ich als Kind nicht durfte, kann, nein, muss ich jetzt tun: Die Finger in ein großes Glas mit Marmelade stecken und sie ablecken. Und es macht keinen Spaß. Treten sie kürzer, haben Sie gesagt. Sie sind der prototypische Herzinfarktkandidat. Übergewicht, wenig Bewegung und eine Arbeit, mit der sie sich überfordern, weil sie glauben, unentbehrlich zu sein. Das glaube ich nicht nur, das bin ich, habe ich gesagt. Und es selbst nicht recht geglaubt.

Es hätte schlimmer kommen können. Ich habe genug zu trinken, hervorragenden Wein. Vermutlich wird dies der teuerste Urlaub meines Lebens werden. Ich pinkle in die leeren Flaschen und verschließe sie wieder mit den Korken. 2000er Chateau Dietmar. Ich habe genug zu essen, süße Früchtchen aus dem Glas, lecker lecker. Mit den festen Exkrementen verfahre ich genauso wie mit den flüssigen. Deckel drauf, Einweckgummi drüber. Ob es mir wohl gelingt, den gesamten Inhalt der Regale in – entschuldigen Sie die derbe Ausdrucksweise – in Scheiße und Pisse umzuwandeln?

Ich habe Ihren Rat beherzigen wollen, und das habe ich jetzt davon. Aber machen Sie sich keine Sorgen, ich habe Hoffnung. Was sind wir ohne Hoffnung in unseren Herzen? Ich habe Papier gefunden und einen Stift. Wenn ich eine dramatische Ader hätte, würde ich sagen, dass ich um mein Leben schreibe. Ich habe keine dramatische Ader und deshalb sage ich, dass ich schreibe, um nicht zu verblöden. Man wird mich finden. Freunde werden sich Sorgen machen und nach mir suchen. Ich werde spätestens hier herauskommen, wenn Erika und die Kinder in einem Monat aus der Karibik zurückkehren. Vielleicht werde ich mich zum ersten Mal seit Jahren aufrichtig freuen, sie zu sehen. Sie werden braun gebrannt und vielleicht gut gelaunt sein. Ich habe Erika schon seit Jahren nicht mehr gut gelaunt erlebt. Vielleicht lag es an mir, ich weiß es nicht. Wenn sie gut gelaunt aus dem Urlaub zurückkommt, werde ich wissen, dass es so war. Sie werden einen ganzen Koffer voller Tinnef dabeihaben, Seesterne, Ketten, Armbänder, Spielzeug. Und große Muscheln, in denen man das Meer rauschen hören kann. Das Rauschen des Meeres ist identisch mit dem Rauschen des eigenen Blutes. Je später der Abend, desto poetischer der Dichter. Lieber Dr. Fincke, wenn wir uns jemals wiedersehen sollten, werde ich Ihnen sagen, dass ich Ihre Medikamente nicht mehr brauche. Und wenn wir uns nicht mehr wiedersehen, werden Sie wissen, dass ich sie gebraucht hätte. Vielleicht werde ich sie einmal zu mir einladen und Ihnen meine umfangreiche Exkrementensammlung zeigen.

Mit den besten Grüßen

Dietmar Heiligenberg

Tim Ingold