Scheitern nie ausgeschlossen

von SUSANNE KNAUL

„Ich bin ein Verlierer?“, fragte Schimon Peres ungläubig vor dem Parteitag, kurz nach verlorener Wahl im Frühjahr 1996. „Jaa!“, riefen die Genossen der Arbeitspartei. Zweimal sei Peres nach Wahlen Premierminister gewesen, lästerten die Parteiaktivisten. Jeweils nur für 15 Minuten, denn dann stellte es sich doch wieder als Fehler heraus. 1981 wurde er nach Bekanntgabe der ersten Hochrechnungen im Rennen gegen Menachem Begin vorschnell zum Sieger gekürt, und auch in der Wahlnacht 1996 feierte die Arbeitspartei bis drei Uhr morgens den vermeintlichen Sieg ihres Spitzenkandidaten. Am kommenden Morgen war Peres doch nur wieder Zweiter. „Peres könnte gegen sich selbst antreten und käme als Letzter ins Ziel“, witzeln Journalisten über den ewigen Verlierer. Doch der hartnäckige Friedenspolitiker trägt es mit Würde: „Beleidigt sein ist kein Programm“, sagt er in einem Interview und setzt – von allen Wahlschlappen unbeirrt – seinen Weg fort.

Würde die Bevölkerung entscheiden, dann könnte Schimon Peres vor seinem letzten politischen Kampf ruhig schlafen. Die Israelis geben ihm mit großem Abstand den Vorzug vor seinem Gegner vom oppositionellen Likud, Mosche Katzaw: In den Umfragen steht es 63 zu 20 Prozent. Doch nicht das Volk, sondern die 120 Parlamentarier wählen das künftige Staatsoberhaupt. Schon lange bevor Eser Weizmann wegen eines Korruptionsskandals seinen Rücktritt aus dem Präsidentenamt bekannt gab, galt Peres als sein sicherer Nachfolger. Nun sieht es infolge der jüngsten Koalitionsquerelen doch nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen aus. Die orientalisch-orthodoxe Schas-Partei ist erneut das Zünglein an der Waage. Um ihre Gunst buhlten die beiden Kandidaten in den letzten Tagen vor der heutigen Präsidentschaftswahl. Katzaws großer Vorteil ist, dass er selbst zu den Sephardim, den orientalischen Juden im Land, gehört, während Peres im Alter von neun Jahren aus dem polnischen Schtetl Wischnewa nach Palästina kam. Überraschend setzt sich Arye Deri seit kurzem für Peres ein. Der ehemalige Innenminister und Schas-Vorsitzende muss ab Mitte August eine dreijährige Gefängnishaft unter anderem wegen Betrugs und Unterschlagung öffentlicher Gelder antreten. Vermutlich hofft Deri, dass der künftige Präsident Peres ihm seine Unterstützung bei Gelegenheit mit einer Begnadigung vergelten wird.

Für den „ewigen Zweiten“ wäre es auf tragische Weise typisch, den fast sicheren Sieg in letzter Minute erneut hergeben zu müssen. Nicht weniger als fünf Parlamentswahlen, bei denen er als Spitzenkandidat der Arbeitspartei antrat, endeten mit der Niederlage vor dem Likud. Immer wenn Peres die Partei führte, zog sie den Kürzeren. Hatte Peres jedoch schon bei den parteiinternen Wahlen nur den zweiten Platz erreicht, gelang es den Sozialisten, mal mit Jitzhak Rabin, mal mit Ehud Barak als Chef, die Führung zu übernehmen. Möglich, dass sich im entscheidenden Moment doch Peres’ mangelnde Militärerfahrung rächte. Unter Israels Premierministern bildet er eine Ausnahme: Nur für sehr kurze Zeit war Peres Soldat und schaffte es nicht über den Rang eines Marinekommandanten hinaus.

Peres ist eben kein Kämpfer, sondern ein „Intellektueller“, ein „Kulturmensch“, der sich bei guten Weinen ebenso auskennt wie in moderner Kunst und vor allem in der Literatur. Jossi Beilin, der ihn in seiner Zeit als Außenminister unter Jitzhak Rabin und bei den Verhandlungen in Oslo begleitet hat, sagt anerkennend: „Er setzt sich fünf Minuten konzentriert hin und schreibt eine wunderbare Rede.“ Wenn er auch keinen „Ghostwriter“ braucht, dann wenigstens einen „Ghostreader“, schreibt hingegen die Literaturkritikerin Miri Paz. Denn Peres rühmt sich damit, jeden Tag ein Buch zu lesen. „Wie er das nur macht“, fragt Paz, „oft spricht er über Bücher, die noch gar nicht in den Ladenregalen stehen.“ Tatsache ist, dass Peres sich bei Testfragen nach dem Inhalt der Bücher noch nie blamieren musste.

Ganz anders auch als der scheidende Präsident Eser Weizmann, dem „Mann aus dem Volk“ und „einer von uns“, pflegt Peres sein Image als Schöngeist, wenn er über den „neuen Nahen Osten“ visioniert und die Alternative „Oslo oder Kosovo“ aufzeichnet – allerdings ohne jede Arroganz. „Er würde es nie versäumen, der Putzfrau einen guten Morgen zu wünschen und sich nach ihrem Befinden zu erkundigen“, sagt einer seiner Mitarbeiter.

Wie Israels sieben bisherige Präsidenten ist auch Peres in den Reihen der Arbeiterjugend groß geworden. Sollte er bei den Wahlen erneut versagen, würde zum ersten Mal ein Likud-Politiker das höchste Amt einnehmen. Für Peres wäre es vermutlich das endgültige politische Aus.

Im Grunde schien schon 1992, als Jitzhak Rabin ihn bei den parteiinternen Wahlen schlug, die Zeit für den Abschied aus der Politik gekommen zu sein. Ohne den zweiten Mann auf der Liste zog Rabin in den Wahlkampf und schließlich in den Sieg gegen den konservativen Jitzhak Schamir, während nur eine kleine Gruppe von politischen Reportern Peres auf seinem Weg zur Wahlurne begleiteten. Im Namen des Friedens ließ der rege Sozialist das zweifellos peinliche Schauspiel über sich ergehen und blieb hartnäckig der Politik treu. Zu seinem Glück erkannte Rabin, dass er zusammen mit „dem unermüdlichen Kungler“, wie er ihn einst nannte, ein gutes Team abgeben würde. Er machte Peres zu seinem Außenminister und ließ ihn in Oslo die Verhandlungen mit den Palästinensern leiten. Nach dem Mordanschlag auf den Premierminister im November 1995 übernahm Peres für einige Monate den Regierungsstuhl.

Anders als Rabin, der in Peres einen wichtigen Partner erkannte, stellte Ehud Barak seinen Vorgänger im Anschluss an dessen parteiinterne Wahlniederlage buchstäblich kalt. Ginge es nach dem Premierminister, würde Peres seine letzten politischen Jahre in dem relativ kraftlosen Amt des Ministers für Regionale Zusammenarbeit verbringen und sich auf seine außerparlamentarische Friedensarbeit als Vorsitzender des „Schimon-Peres-Friedenszentrums“ konzentrieren. Doch trotz der vielen Verluste, die Peres seiner Partei zufügte – die Mehrheit der Genossen zollt ihm für seine seit über 50 Jahren andauernde Arbeit im Auftrag der Partei großen Respekt.

Schon mit Anfang 20 galt Peres als einer der herausragenden Köpfe der Mapai, aus der später die Arbeitspartei wurde. David Ben-Gurion war es, der seinen jungen Protegé als Generaldirektor ins Verteidigungsministerium holte. In dieser Funktion war Peres während der 50er-Jahre maßgeblich an der Errichtung einer „Atomforschungsstation“ in der Negev-Stadt Dimona beteiligt. Offiziell handelte Israel das Forschungsinstitut zunächst als „Energiegewinnungsanlage“, die es allerdings nie war. Noch in seinen 1995 veröffentlichen Memoiren bezieht sich Schimon Peres auf Ben-Gurions Argumentation: „Durch den vernünftigen Einsatz von Atomkraft könnten wir elektrischen Strom ohne Kohle oder Öl erzeugen und Meerwasser-Entsalzungsanlagen zur Vergrößerung unserer Wasservorräte betreiben.“ Mit nur einem Satz erwähnt Peres an anderer Stelle: „Für die Verteidigung mit konventionellen Waffen ist die geografische Wirklichkeit Israels ungünstig.“ Spätestens seit den Enthüllungen des Atomspions Mordechai Vanunu ist indes nicht mehr zu leugnen, dass in Dimona Bomben hergestellt werden.

Peres’ Umdenken vom Sicherheits- zum Friedenspolitiker muss irgendwann in den 70er-Jahren stattgefunden haben. Jedenfalls galt er 1981 als der schärftste Kritiker Menachem Begins für dessen Entscheidung, eine irakische Nuklearforschungsanlage zu bombardieren. Eine Entscheidung, die selbst linke Friedensaktivisten in kommenden Jahren rückwirkend guthießen, während Peres seither zu diesem Kapitel beharrlich schweigt. Sein früher Friedensaktivismus brachte ihm eine regelrechte Hass- und Hetzkampagne ein. Er habe eine arabische Mutter, hieß es, Gerüchte über Aktienbesitz wurden verbreitet, der ihm als Minister untersagt war, und bei einem öffentlichen Auftritt flogen gar Tomaten auf ihn. Bis heute hängt ihm der Ruf eines Träumers an, der mit den Füßen über der Erde schwebt.

Als einer der ersten israelischen Politiker sprach sich Peres für die Errichtung eines Staates Palästina aus und setzte sich für internationale Hilfe für den Aufbau der palästinensischen Gebiete ein. Mit hungrigen Nachbarn sei kein Frieden zu machen, erkannte er und begann rosige Visionen vom „neuen Nahen Osten“ zu entwickeln, in dem die wirtschaftliche Zusammenarbeit anstelle von Krieg den „Wohlstand für alle“ bringen würde. „Wir können uns auffressen wie Schlangen. Oder wir leben zusammen.“ Es sei billiger, eine Ansicht zu ändern, als Menschen zu töten. Spätestens seit der Unterzeichnung der Osloer Verträge unterhält Peres enge Beziehungen vor allem zu Palästinensern, aber auch nach Jordanien.

Bis ins Alter lässt sich Peres dennoch immer wieder, trotz bester Absichten, zu groben Fehlern verleiten. Von seiner eigenen Vision geblendet, verliert er den Blick für die Realität, sagen seine Kritiker. Das zweifellos schwärzeste Kapitel in seiner Laufbahn war die so genannte Operation Früchte des Zorns im April 1996, in deren Verlauf es zu einem regelrechten Massaker unter libanesischen Zivilisten in dem Dorf Kana kam. Peres rief noch am gleichen Abend die internationale Presse an und gab sich glaubhaft erschreckt über den Tod der hundert unschuldigen Menschen. „Uns treibt weder Blut noch Abenteuer“, erklärte er. Sein Plan war es, die Entscheidungsträger in Beirut und Damaskus mit den Bombardierungen an den Verhandlungstisch zu zwingen und so der Besatzung des Südlibanon ein Ende zu machen.

Die Öffentlichkeit vor allem im Ausland verzieh dem Nobelpreisträger und Architekten von Oslo selbst das blutige Massaker von Kana rasch. Peres gilt als einer der begehrtesten Gesprächspartner bei Staatsbesuchern aus Europa und Amerika. Mit seiner Position kann sich der Westen zweifellos leichter identifizieren als mit der harten Linie eines Benjamin Netanjahu oder Ariel Scharon. Peres scheint für das von ihm angestrebte Amt geradezu prädestiniert zu sein. Als Präsident könnte er zudem kaum noch politische Fehler begehen, sondern sich ganz bedenkenlos seinen Friedensvisionen hingeben.

Hinweise:„Beleidigt sein ist kein Programm“, sagte Peres. Und setzte – von allen Wahlschlappen unbeirrt – seinen Weg fortVon seiner eigenen Vision geblendet, lässt sich Peres immer wieder, trotz bester Absichten, zu groben Fehlern verleiten