Wahnsinns-Szenen in Berlin

von RALPH BOLLMANN

Das gibt es nicht einmal in Bayreuth. Alle zehn Wagner-Opern am Stück, vom „Fliegenden Holländer“ bis zum „Parsifal“, sollen im Frühjahr 2002 an der Berliner Staatsoper zu sehen sein, alle dirigiert von Maestro Daniel Barenboim persönlich. An die 40 Stunden Musik, eine psychische und physische Höchstleistung – da kann selbst der Theatermann Peter Stein mit seinem Expo-„Faust“ nicht mithalten.

Mit diesem furiosen Endspurt will der dann 59-jährige Barenboim das Ende seines Zehn-Jahres-Vertrags an Berlins ältestem Opernhaus zelebrieren. Ob es ein Finale wird oder die Ouvertüre zu einer zweiten Ära Barenboim – das ist noch ungewiss. Zehn Millionen Mark zusätzlich verlangt der Dirigent für teure Sänger und höhere Orchestergehälter an seinem Haus, das ohnehin schon so hoch subventioniert wird wie kaum ein anderes in Berlin. Sollte sich der Senat bei der Kultur knauserig zeigen, dann sähe Barenboim – wie er in einem Interview verkündete – das „Monstrum des Nazismus“ wieder auferstehen.

Barenboim muss aufpassen, dass er den Bogen nicht überspannt – wie 1989 in Paris, als er für die Leitung der neuen Opéra de la Bastille auserkoren wurde. Eine demokratische Oper für alle hatte Staatspräsident François Mitterrand im Sinn, als er das Haus in Auftrag gab. Doch diesen Anspruch glaubte Barenboim mit den umgerechnet läppischen 150 Millionen Mark jährlich, die der französische Staat für die beiden Häuser der Nationaloper erübrigte, nicht einlösen zu können. Viele teure Gaststars, dafür wenige Vorstellungen: Das war Barenboims Konzept schon damals. Sechs Monate vor der geplanten Eröffnung zog der Kulturminister die Konsequenz: Der Vertrag wurde aufgelöst, Barenboim erhielt eine Abfindung in angeblich achtstelliger Francs-Höhe.

Dass die Berliner das einstige Wunderkind einfach vor die Tür setzen, ist jedoch höchst unwahrscheinlich. Im Gegensatz zu Paris glaubt die Stadt, mangels anderer Attraktionen auf Barenboim angewiesen zu sein. Schon tüftelt Kultursenator Christoph Stölzl an einer Lösung, die dem Staatsopern-Chef mehr bietet und den Stadtstaat trotzdem weniger kostet. Denn eines steht fest: Das Musikleben der finanziell überforderten Hauptstadt steht vor einem ähnlich grundlegenden Einschnitt, wie ihn Paris mit der Eröffnung der Bastille-Oper vor elf Jahren erlebte. Wenn es gut läuft, könnte sich Berlin auf das ersehnte „Weltniveau“ katapultieren. Läuft es schlecht, können sich die Berliner den Aufstieg in die erste Liga der Opernmetropolen endgültig abschminken.

Die „Pariser Lösung“: Das ist in diesen Tagen das Zauberwort in den Berliner Feuilletons. Zwei Häuser unter dem gemeinsamen Dach der „Opéra National“ – was mit dem alten Palais Garnier und der neuen Bastille-Oper möglich ist, soll künftig auch mit der historischen Staatsoper Unter den Linden und der modernen Deutschen Oper in Charlottenburg denkbar sein. Der Altbau für Ballett, Barock und Frühklassik, der riesige Neubau für die großen Opern des 19. Jahrhunderts und massenwirksam inszenierte Moderne: Das ist das Pariser Konzept. Umgerechnet 200 Millionen Mark im Jahr lässt der französische Staat dafür springen, hinzu kommen 100 Millionen Mark an eigenen Einnahmen aus Eintritts- und Sponsorengeldern.

Die Berliner Verhältnisse nehmen sich dagegen sparsam aus: Statt der 2.700 Plätze in der Bastille-Oper hat das größte Berliner Haus, die Deutsche Oper, nur knapp 1.900 Plätze aufzubieten. Und mit rund 170 Millionen Mark jährlich werden die beiden großen Berliner Musiktheater deutlich sparsamer alimentiert als die Pariser Nationaloper. Das Konzept lässt sich gleichwohl übertragen: Orchester und Chöre verschmelzen, Werkstätten und Verwaltung fusionieren. Ein Generalintendant koordiniert das künstlerische Programm, die Spielpläne werden abgestimmt. Spareffekt: rund 30 Millionen Mark.

Der personalpolitische Hintergedanke: Barenboim ließe sich vielleicht damit locken, dass er statt zusätzlicher Subventionen einen solchen Riesenapparat in die Hand bekäme. Ob der Pianist und Dirigent, nachdem er die Staatskapelle in zehnjähriger Arbeit zum Spitzenensemble geformt hat, mit einer Orchesterfusion noch einmal praktisch von null anfangen will, steht dahin – zumal er mit dem Chicago Symphony Orchestra, das er seit zehn Jahren leitet, noch ein Orchester der Extraklasse in der Hinterhand hat.

Auch für die neue Mega-Oper müsste ein Generalintendant Barenboim kein Glücksfall sein. Schon an der Linden-Oper engagierte er vorzugsweise teure Stars, tourte mit der Staatskapelle durch die Welt und lockte Touristen mit Wagner- oder Mozart-Festivals zu Spitzenpreisen. Für das Berliner Publikum blieben immer weniger Vorstellungen übrig. Originalität und frische Kräfte kamen selten zum Zuge, statt dessen blockieren Langzeitvorhaben wie Barenboims Wagner-Zyklus alles mobile Geld.

Ein Eklat à la Paris dürfte bei einem Generalintendanten Barenboim nicht lange auf sich warten lassen. Gewiss: Die Berliner Kulturverwaltung ist sich über die finanziellen Risiken einer solchen Lösung im Klaren und hat – wie die Welt berichtet – als Kassenwart André Schmitz ins Auge gefasst, den Geschäftsführer der Deutschen Oper. Am defizitären Charlottenburger Opernhaus hatte er den scheidenden Intendanten Götz Friedrich auf den Pfad der wirtschaftlichen Vernunft zurückgeführt. Barenboim indes ist von einem anderen Kaliber als der resignierte Regie-Berserker Friedrich: Schwer vorstellbar, dass er sich den Vorgaben eines Geschäftsführers unterordnen könnte.

Völlig unklar ist, was im Falle einer Opernfusion aus dem Personal würde, das noch der frühere Kultursenator Peter Radunski (CDU) für die Deutsche Oper engagiert hatte. Das zerstrittene Leitungsduo – Regisseur Götz Friedrich und Dirigent Christian Thielemann – tritt im Sommer 2001 ab. Als neuer Intendant ist der Komponist Udo Zimmermann verpflichtet, den Stab soll der Italiener Fabio Luisi schwingen. Bei den Dirigenten wäre die Frage noch recht einfach zu lösen. Schließlich weilt Barenboim bei einer Jahresgage von einer Million Mark ohnehin nur vier Monate pro Jahr in Berlin.

Der Intendantenposten aber ist nur einmal zu vergeben. Käme Barenboim, müsste Zimmermann gehen. Doch der Leipziger Noch-Intendant ließ bereits wissen, er bestehe auf der Erfüllung seines Vertrags. Das hätte es, trotz rauher gewordener Sitten, im deutschen Theaterbetrieb noch nie gegeben: Da wird ein Intendant verpflichtet, darf ein Jahr lang planen und seine erste Spielzeit festzurren – um schließlich für einen Prominenteren wieder beiseite geschoben zu werden.

Völlig unklar ist noch, welche Rolle die dritte der Berliner Opernbühnen bei einer solchen Fusion spielen könnte: Wird die Komische Oper als drittes Haus in den Koloss integriert? Oder bleibt ihr eine karge Existenz im Schatten einer übermächtigen „Nationaloper“ – wie in Paris der sparsam alimentierten Opéra Comique, die inzwischen zur Märchenbude degradiert wurde?

Eines jedenfalls steht fest: Einen ruhigen Urlaub haben in diesem Jahr die wenigsten der Berliner Operngrößen. Auch wenn Kultursenator Stölzl, der die Fusionsdebatte erst mit seinem Konzeptpapier angestoßen hatte, seine personellen Planspiele nicht durch schrilles Sommertheater gestört sehen will. Es gebe „keinen Geheimplan“, entsprechende Presseberichte seien „reine Spekulation“. Vorerst. Denn nach den Sommerferien, das bestreitet auch Stölzl nicht, will er die „notwendigen Strukturveränderungen“ angehen.