mutters geburtstag
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von MICHAEL RUDOLF

Dreiviertelstunde Bahn, Dreiviertelstunde latschen, dann erstrahlt vor uns eine Mischung aus Lebkuchen und Sanatorium – ihre zum Wochenendhaus umgewidmete Laube.

Hei, der Schwager hat uns schon erblickt. Ein Hallo! – Jetzt nur nicht den Text vergessen. Meine Liebste zischt entnervt: Die Namen! Wie gut, dass wir den Enkel bei der Hand haben, da kann man sich rasch verdünnisieren. Denkste! Wann denn wieder was von mir in der Zeitung stünde? Und was ich denn machte, wenn mir nichts mehr einfiele? Euch allen den Hals umdrehen, will ich lostrompeten, da ist die Schwester samt niedlich-kleiner Nichte dem Mittagsschlaf entsprungen. Es folgt Begrüßungshallo Nummero zwo. Getränke? Ja, die Hitze. Und für eure Kleine haben wir was ganz Besonderes.

Wir wollen es gar nicht wissen und sehnen die Kaffeetafel herbei. Der Schwager setzt zum zweiten Gesprächsversuch an. Ich will ihm gerade die nächstliegende Forke über die Bürste ziehen, schon naht Onkel mit seiner „Truppe“. Viel zu spät, weil man zu spät losgefahren ist. Jedes Jahr das Gleiche, wir hatten es nur vergessen. Alle Söhne samt Enkeln, und seine gefürchtete Videokamera hat er mitgebracht. Das nächste Hallo. Hinsetzen. Letaldosierte Tortenberge mit einer lauwarmen Flüssigkeit runter spülen. Schnell, gleich ist Abendbrot!

Die Wasser speiende italienische Plastikente für den Teich hat sich als Geschenk mit Komplikationen erwiesen und wird zielstrebig kaputt repariert. Will jemand Bier? Ein Onkelsohn hat seine neue Flamme mit, ein gepierctes Bauteil aus einer kryptogamen Wesensreihe, die wir irgendwoher kennen. Wir kommen nur nicht drauf. Onkel macht uns miteinander bekannt, wo wir sozusagen vom gleichen Fach seien, sie habe nämlich auch grad eine CD aufgenommen: Grünbacher Folkloristen – da könnte ich doch in der Zeitung . . . Übrigens, wann denn wieder was von mir in der Zeitung stünde. Und was ich denn machte, wenn mir mal nichts mehr einfiele. Wir hören nicht mehr hin, blättern im volkstümlichen Booklet und bekämpfen innerlich 300 Lachkrämpfe. Paps findet so was scheiße, gesteht unser liebes Kind sehr laut. Onkel und Stiefvater lenken mit Himmelfahrtsfotos ab: Kecke Hüte, Bier in den Pranken, simulierte Trunkenheit. Bruhaha! Könntest du mitmachen, eine Bombenstimmung immer. Und Witze – wenn dir mal nichts mehr einfällt. Alles wird gefilmt.

Jetzt müssen nur noch die Würste, Steaks und Schaschliks auf dem Riesenrost verbrennen, und alle Programmpunkte wären abgehakt. Schuld ist natürlich die Holzkohle, taugt ja nüscht mehr, wird viel zu schnell heiß. Verärgert knuspert die anthracophile Horde mineralisierte Schweinelappen. Da lässt Onkel versehentlich die Bemerkung fallen, die Erbtante Gerda habe wieder 50.000 Mark in der Kühltruhe verfaulen lassen. Wie auf Kommando fällt allen die Wurst aus der Hand, aber niemandem fällt rechtzeitig auf, wie wir den Tumult zur Flucht nutzen. Lasst euch wieder mal sehen. Und wenn wieder was in der Zeitung ist, heulen sie uns hinterher, bevor sie sich ihr schönes Fest noch mal auf Video angucken.