die stimme der kritik
: Betr.: „FAZ“-Rechtschreibreform

Lasst 1.000 Rechtschreibreformen blühen!

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung kehrt ab heute der Rechtschreibreform den Rücken und führt die alten Regeln wieder ein. Nun haben wir eigentlich – Kohl, Kampfhunde, Concorde – heuer so viele Sommerlochthemen, dass kein Bedarf besteht, eine staubtrockene Marginalie wie die Rechtschreibung noch einmal zur nationalen Debatte aufzuköcheln.

Wenn aber das Top-Organ für Law, Order und Shareholder Value aus heiterem Himmel mit allen Regeln und Gesetzen bricht und im Alleingang eine hauseigene FAZ-Schreibreform einführt, ist das doch einen anerkennenden Zwischenruf wert. Zumal von der taz, die im deutschen Blätterwald standesgemäß für Subversion und Chaos zuständig ist, die sich aber jetzt in Sachen Anarchie um Längen abgehängt sehen muss, und das ausgerechnet von der alten Bonzentante aus Frankfurt. Chapeau!

Welcher Teufel auch immer das erlauchte Herausgebergremium bei dieser Entscheidung geritten hat, das kulturrevolutionäre Signal, das von ihr ausgeht, ist eindeutig: Lasst 1.000 Rechtschreibreformen blühen! Schon schreibt mir der Kollege Dr. Sens „Viele Grüsze“ und meint auf Nachfrage, dies sei die beim Sender Freies Berlin, Zimmer 378, seit 30. Juli gültige Rechtschreibung.

Mein Sohn wird den Punkteabzug wegen Schreibfehlern bei seinen Deutschaufsätzen nicht mehr klaglos hinnehmen, sich als FAZ- und „Duden“-Geschädigter outen und auf seine höchst eigenen Kompromissvarianten bestehen. Die Süddeutsche hingegen muss sich dringend irgendwas einfallen lassen, um den ultraliberalistischen Coup der Frankfurter Konkurrenz zu kontern – und sei es eine Kampagne zur Rettung des Buckel-S im „ß“-Magazin.

Wie auch immer: Nachdem die FAZ die radikalisierte „Duden“-Opposition und den freien Alphabetismus ausgerufen hat, kann nun auch dem Rest der schreibenden Welt dieses Grundrecht nicht mehr verwehrt werden. Die Zeiten der außerparlamentarischen Orthografie sind jetzt angebrochen – und siehe da, die alten APO-Regeln scheinen doch noch immer zu gelten, zumindest, was die richtige Stelle bei der umstrittenen Wort-Trennung betrifft: „Wer zwei an derselben trennt, gehört schon zum Establishment!“

MATHIAS BRÖCKERS