: Janusköpfiger Moskowiter
Im Westen wird Russlands Präsident Putin als großer Reformer und Hoffnungsträger hofiert. Doch die Diskrepanz zwischen seinen Worten und Taten ist alarmierend
„In Russland vollzieht sich derzeit ein historischer Umbruch“, ließ der Präsident der Republik Tschuwaschien, Nikolai Fjodorow, unlängst die Presse wissen. „Die Exekutive entwindet sich der Kontrolle der Gesellschaft, des Parlaments und, ob Putin das will oder nicht, dieses führt unweigerlich zu einem totalitären, bürokratischen Polizeiregime.“ Dieses stellte Fjodorow fest, nachdem die Duma zwei von Putin vorgeschlagene Gesetze über die Reform der Staatsorgane angenommen hatte. Fjodorow weiß, wovon er spricht. Er war in der ersten Regierung unter Boris Jelzin Justizminister und ist heute einer der letzten konsequenten Verfechter der Demokratie im Föderationsrat.
Russlands Demokratie durchlebt in der Tat rabenschwarze Tage, die nicht nur zur Erschütterung, sondern sogar zum Zusammenbruch der Wirtschaft führen werden. Zu nennen sind: die Verabschiedung der Gesetze zur Strukturreform der Staatsmacht, die Verstärkung des Drucks auf die Holding Media-Most und ihren Chef Wladimir Gussinski, die Attacken auf eine Reihe von großen Konzernen sowie die Ankündigung des Kremls, gegenüber den Massenmedien eine stärkere Kontrolle einzuführen.
Das erste Gesetz, dem der Föderationsrat, das Oberhaus des Parlaments, vor zwei Wochen zugestimmt hat, legt fest, dass von Januar 2002 an nicht mehr wie bisher Gouverneure und Vertreter der gesetzgebenden Versammlungen der Gebiete und Republiken im Föderationsrat sitzen, sondern Beamte, die von den Gouverneuren und gesetzgebenden Versammlungen ernannt werden. Diese Maßnahme verringert die Autorität des Föderationsrats und beraubt die Gouverneure und Chefs der örtlichen Parlamente der Immunität, die sie bisher als Mitglieder des Föderationsrats genossen. Das wiederum erleichtert es der Präsidialadministration, Druck auf sie auszuüben. Der Föderationsrat ist nicht nur deshalb von Bedeutung, weil er alle von der Duma verabschiedeten Gesetze bestätigen muss, sondern auch über so wichtige Fragen entscheidet wie die Kriegserklärung gegenüber einem anderen Land oder die Verhängung des Ausnahmezustands im eigenen Land.
Das zweite Gesetz gibt dem Präsidenten das Recht, die Gouverneure, die vom Volk gewählt sind, von ihrem Posten abzuberufen, wenn und solange gegen sie wegen des Verdachts ermittelt wird, korrupt zu sein oder gegen geltende Gesetze verstoßen zu haben. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft kann der Präsident die regionalen Parlamente sogar vollständig auflösen und seit vorgestern auch Bürgermeister absetzen, ohne dass der Föderationsrat ein Vetorecht hätte. Da sich staatsanwaltschaftliche Ermittlungen erfahrungsgemäß jahrelang hinziehen, wird die Region während dieser ganzen Zeit von einem Beamten regiert, den der Präsident ernannt hat.
Diese Gesetze tragen mithin dazu bei, Gouverneure und örtliche Parlamente in fügsame und initiativlose Erfüllungsgehilfen des präsidialen Willens zu verwandeln, was zu einer Liquidierung des Föderalismus führt. Doch ein derart großes Land kann auf Dauer nicht mit Hilfe einer Diktatur des Zentrums regiert werden, erst recht nicht nach dem Zusammenbruch der Kommunistischen Partei. Daher befürchten viele Politiker und Beobachter zu Recht, dass Putins Reform der Staatsmacht letztendlich ins Chaos und zu einem Zusammenbruch des Staates führt, besonders dann, wenn sich die wirtschaftliche Lage weiter verschlechtert.
Zur Liste der unschönen Ereignisse zählt auch die Pfändung des Eigentums von Wladimir Gussinski, dem Chef und Besitzers der Holding Media-Most, zu der die Fernsehgesellschaft NTV, der Radiosender „Echo Moskau“ und eine Reihe von Printmedien gehören. Alle Anhänger der Demokratie in Russland entsetzt die Möglichkeit des Verstummens von NTV, der heute eine der letzten bedeutenden Bastionen der Freiheit des Wortes im Lande ist. Zwar war die Staatsanwaltschaft aus Mangel an Beweisen gezwungen, das Strafverfahren gegen Gussinski einzustellen, doch die Versuche des Kremls, NTV unter Kontrolle zu bekommen, werden wohl weitergehen.
Das beweist nicht zuletzt ein Plan des präsidialen Sicherheitsrats, der vor zwei Wochen von der Zeitung Nowyje Iswestija veröffentlicht wurde. Danach sollen die russischen Massenmedien einer totalen Kontrolle unterstellt werden. „Die allgemeine Idee dieses Dokuments“, schreibt die Zeitung, „besteht darin, bei Bedarf im Informationsbereich schnell und hart Ordnung zu schaffen sowie einen einheitlichen propagandistischen Hintergrund als Unterstützung für die Tätigkeit der politischen Führung des Landes vorzubereiten.“ Vorgeschlagen wird eine Änderung des Pressegesetzes, die Einführung von Lizenzen für Printmedien, die Übertragung von Zensurfunktionen an Aufsichtsräte bei Fernsehen und Presse sowie die Einsetzung von dem Kreml ergebenen Personen in Schlüsselpositionen der Redaktionen. Laut Nowyje Iswestija, die sich auf „absolut verlässliche“ Quellen beruft, soll dieses Szenario, das schon von der Führungsspitze im Kreml bestätigt ist, Ende August anlaufen und bis zum Frühjahr des nächsten Jahres abgeschlossen sein. Zur Durchführung dieses Plans sind präsidiale Ukasse in Vorbereitung, von denen Putin bereits eine Reihe unterschrieben hat.
Überdies standen die vergangenen Wochen ganz im Zeichen von „Stippvisiten“ der Staatsanwaltschaft, der Steuerbehörden und des Rechnungshofs bei einer Reihe von großen Konzernen. Die Vorwürfe: verdeckte Einkünfte, Steuerhinterziehung, unrechtmäßiger Verkauf von Aktien an Ausländer. Anatoli Tschubais, Chef der russischen Aktiengesellschaft Elektronische Netzwerke (ES), und der steinreiche Geschäftsmann Boris Beressowski, der kürzlich sein Duma-Mandat niederlegte, nannten diese „Kurzbesuche“ eine politische Kampagne und eine Torheit der Macht. Tschubais benutzte sogar den Ausdruck von einer „roten Revanche“. Bemerkenswert ist, dass unter den inspizierten Firmen keine ist, die Oligarchen im Umkreis der Jelzin-Familie oder ihr selbst gehört.
Alle diese Ereignisse zeigen die geistige und moralische Degradierung der politischen Klasse und die tödliche Passivität der Öffentlichkeit. Dabei verblüfft, dass das Gesetz über das Recht des Präsidenten, die regionalen Chefs abzusetzen, von der Duma mit 362 gegen 35 Stimmen angenommen und vom Föderationsrat mit 119 zu 18 Stimmen bestätigt wurde. Wie es der Kreml geschafft hat, ein solches Abstimmungsergebnis zu erreichen, ob durch Kauf oder Erpressung, bleibt ein Rätsel.
Offensichtlich ist, dass zwischen den Worten und Taten Putins eine Kluft besteht, dass er weder ein Liberaler noch ein Demokrat ist. Und dass er sich bei der nächsten neuen Erschütterung in der Wirtschaft von liberalen Reformen verabschieden wird. Die Politik Putins garantiert aber nicht nur die nächste Erschütterung, sondern den Zusammenbruch der Wirtschaft.VADIM BELOZERKOVSKI
ÜBERSETZUNG: BARBARA OERTEL
Hinweise:Doch ein derart großes Land kann auf Dauer nicht mit Hilfe einer Diktatur des Zentrums regiert werdenAlle diese Ereignisse zeigen unmissverständlich die geistige und moralische Degradierung der politischen Klasse
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