Bildschirmfüllend

Aus der Weimarer Republik direkt in den Cyberspace: www.kunstfokus.de geht mit einer Ausstellung des Fotografen Friedrich Seidenstücker online

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Als Chronist des Alltags in der Weimarer Republik und der zerstörten Stadt Berlin in der Nachkriegszeit ist Friedrich Seidenstücker (1882 – 1966) bekannt geworden. Sein Blick war der des Flaneurs, der im Zufälligen und Marginalen die Signatur der Zeit ausmacht. Von 1928 an versorgte er den Ullstein-Verlag mit Bildern aus dem Zoologischen Garten, von spielenden Kindern in Automobilen, von Kämpfen ums Dreirad, von Mädchen an der Pumpe und Bildern seiner berühmten Pfützenspringerinnen. Dass diese Momente der kleinen Triumphe oft einem großstädtischen Alltag abgetrotzt waren, der eigentlich einen ganz anderen Rhythmus vorgab, machte den Reiz der Momentaufnahmen aus. Seidenstücker schraubte das Tempo der Wahrnehmung auf jenes menschliche Maß zurück, in dem sich der Leser der illustrierten Presse zwischen all den Weltereignissen selbst wieder finden konnte.

Jetzt wurden seine liebenswerten Einladungen zum Treibenlassen ins digitalisierte Zeitalter katapultiert. Von einer Auswahlleiste, die 98 seiner Motive briefmarkengroß wiedergibt, kann man sich in einer Sonderausstellung der Online-Galerie www.kunstfokus.de hochklicken zum bildschirmfüllenden Format, das jeden Pflasterstein und jeden Wasserspritzer haarscharf erkennen lässt. Das Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, dem ein Großteil seines Archivs gehört, bietet zudem im Shop der Galerie erstmals eine limitierte Edition von zehn Handabzügen nach den alten Negativen an.

Seit Juni 2000 ist die neue Online-Galerie im Netz, eingerichtet vom Multimedia-Unternehmen Algo Vision Mediatec GmbH. Algo hat ein Kompressionsverfahren für die Bildübertragung entwickelt, mit dem sich die Ladezeit der Bilder verringert und der Bildaufbau schneller zu erkennen ist als im herkömmlichen JPG-Format. Gleich auf der ersten Webseite des Kunstfokus wird der Benutzer gefragt, ob er sich das Plug-in für die Bildkompressionstechnologie AV-Still-Image kostenlos herunterladen möchte. So dient die Internetgalerie der Algo Vision GmbH als Referenzbeispiel, mit dem sie potenziellen Kunden ihr Verfahren in der Anwendung zeigen kann. Ein halbes Jahr hat Algo an der Entwicklung der Galerie gearbeitet, die im Serviceteil auch 500 Ausstellungsadressen aus Berlin und Brandenburg übermittelt oder Vernissagen für den Abend annonciert.

Für das Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz ist die Kooperation mit dem Kunstfokus ein Probelauf. Mit fast 12 Millionen Bilddokumenten gehört es zu den größten Archiven der Welt, das neben Reproduktionen nach den Beständen der Berliner Museen auch über fotografische Nachlässe verfügt. Die Mittel für Pflege und Erschließung des Archivs muss es über den Verkauf von Reproduktionsrechten erwirtschaften. Das wird, das weiß auch der Leiter Karl H. Pütz, in Zukunft kaum ohne eine Digitalisierung des Bestandes möglich sein. Im Kunstfokus testet das Archiv, was auf es zukommt, wenn es sich über das Internet auch privaten Nutzern öffnet.

Dass gerade Seidenstücker als erstes Zugpferd der Online-Galerie dient, scheint fast eine Illustration der These des Medientheoretikers Friedrich Kittler: „Der babylonische Turm aus Hardware und Software wächst und wächst, bis digitale Medien alle anderen integriert haben werden.“ Die neuen Medien beleihen die Inhalte der alten. Auch vom Kunstforen-Angebot haben bisher vor allem traditionelle Maler und Cartoonisten Gebrauch gemacht.

Für Gabriele Sagasser hat sich der Auftritt im Kunstfokus schon als praktisch erwiesen. „Statt mir die Fersen abzulaufen, Geld für einen Katalog zu besorgen oder eine Mappe durch die Gegend zu schleppen“, konnte sie Interessenten auf ihre Bilder im Internet verweisen. So hat sie eine Freundin in Los Angeles und eine Galeristin über ihre Arbeit informiert und mit Ladenbesitzern im Graefe-Kiez eine Ausstellung besprochen, die sich mit dem Leerstand in der Straße auseinander setzen soll. Da wird der virtuelle Raum nur als Kanal genutzt, der in die reale Gegenwart zurückführt. „Kunstfokus ersetzt nicht den persönlichen Kontakt, aber hilft beim ersten Kennenlernen“, schätzt sie.

Das ist auch für die Projektleiterin Annette Richter keine Frage. „Wir verstehen uns selbstverständlich nicht als Konkurrenz zur Galerienszene, sondern als zusätzliches Forum.“ Vor ihrer Spezialisierung in neuen Technologien hat sie die Design-Transfer-Galerie der Hochschule der Künste betreut und an den Ausstellungen zur 300-jährigen Geschichte der Akademie der Künste mitgearbeitet. Diese Kontakte nimmt sie jetzt wieder auf und wirbt bei Meisterschülern der HdK für ihre Seiten im Netz. Mit 2.500 Besuchern der Seiten in den ersten fünf Wochen und über 40 Anmeldungen von Künstlern entwickelt sich die Nutzung allmählich. Drei Abbildungen sind frei, für mehr werden Gebühren verlangt. Richter hofft, dass sich die Online-Galerie einmal selber trägt.