die jazzkolumne
: „Down Beat“ verleiht Preise gegen den Mainstream

Spirit besiegt McKinsey

Die in Frage kommenden Künstler wissen natürlich schon lang im Voraus, an welcher Stelle sie platziert sein werden. Die Plattenfirmen haben längst das eventuell nötige Update ihrer Promo-Unterlagen zur Veröffentlichung vorbereitet, wenn endlich die Augustnummer der amerikanischen Fachzeitschrift Down Beat erscheint. In dieser Bibel der amerikanischen Jazzschaffenden ist alljährlich dokumentiert, wer, nach Meinung einer internationalen Kritikerjury und als Resultat einer nicht sehr verlässlichen Punktewertung, das Who’s who? der Jahresbestenliste in Sachen Jazz anführt. Im vergangenen Jahr löste der Pianist Herbie Hancock dabei den Trompeter Wynton Marsalis ab: Hancock wurde Jazzkünstler des Jahres, seine CD „Gershwin’s World“ zur Platte des Jahres gewählt.

In diesem Jahr haben die Kritiker Dave Douglas gekürt, was einer kleinen Revolution gleichkommt, da Douglas die Riege der sonst auf Preise und Auszeichnungen abonnierten Mainstream-Stars rasant durchbricht. Dabei zeigt sich aber auch, dass selbst Down Beat-Kritiker durchaus noch ein sehr ausgeprägtes, manchmal sogar rebellisches Gespür gegen den Mainstream besitzen können.

Douglas ist ein Trompeter aus dem inneren Kreis der New Yorker Downtown-Szene, interviewscheu und bescheiden, eigentlich kein Mann für die Titelseiten. Sein Umgang mit der Tradition des Jazz bietet jener antiquierten Spielweise Paroli, wie sie von Wynton Marsalis am New Yorker Lincoln Center vorgeführt wird. „Soul On Soul“ – die von Down Beat ebenfalls gekürte Platte – ist Douglas’ Hommage an die aus Atlanta stammende Pianistin und Komponistin Mary Lou Williams (1910–1981), die bereits im Alter von elf Jahren mit Zirkuskapellen tingelte und später zu einer namhaften Swing-Arrangeurin in Kansas City und New York wurde.

Nach einer Erfahrung, die sie als spirituelle Erleuchtung bezeichnete, zog Williams sich lange Zeit aus dem Musikbusiness zurück. Mitte der Sechzigerjahre erst gründete sie ihre eigene Plattenfirma und nahm auf dem „Mary“-Label wundersame Musik auf; in den Siebzigerjahren folgte eine Duo-Einspielung mit dem Pianisten Cecil Taylor.

In Douglas’ Komposition „Multiples“ scheinen rhythmische Begrenzungen völlig aufgehoben, ganz so, als würde jeder Musiker in einem anderen Tempo spielen. Douglas möchte mit diesem Stück Williams’ Interesse für Neue Musik würdigen, das seinen wohl deutlichsten Ausdruck in ihrem besagten Konzert mit Cecil Taylor hatte, das 1977 in der New Yorker Carnegie Hall stattfand. „Kyrie“ wiederum hat Williams spirituelle und religiöse Orientierung in ihrem musikalischen Handeln zum Thema, und „Eleven Years Old“ ist eine einfühlsame Ballade für Klarinette, Posaune und Trompete, die den Bogen zu Williams’ Anfängen schlägt. Den swingenden und bluesigen Kontrast zu Douglas’ Eigenkompositionen bilden die vier Williams-Klassiker, die von seinem Ensemble mit langjährigen Weggefährten aus New Yorks Downtown sehr lebhaft und lustvoll reinterpretiert werden.

Das Label Verve, das im vergangenen Jahrzehnt mehr als die Hälfte der derzeitigen Big Names im Jazz einkaufte und produzierte, hat – ausgestattet mit dem Image, stets auf die ersten Plätze abonniert zu sein – in der jüngeren Vergangenheit keinen Zweifel daran gelassen, dass die Jahrtausendwende in Verve-Hand sein wird, jazzmäßig gesehen zumindest.

Im vergangenen Jahr allerdings wurde das legendäre Blue-Note-Label relativ unerwartet vor Verve platziert. Das zunächst eher halbherzig reaktivierte Katalog-Label feierte mit viel Aufhebens seinen 60. Geburtstag und landete mit Cassandra Wilson einen Bestseller, von dem andere Label kaum zu träumen wagen. Die guten Verkaufszahlen im Jazz haben sich bei etwa 50.000 CDs eingependelt, Cassandra Wilson hat jedoch mit ihren letzten drei Platten jeweils das Zehnfache umgesetzt. Im Schatten dieser Erfolgsstory oder auch davon ermutigt, betreibt Blue Note in enger Kooperation mit Recording Artists wie Greg Osby und Joe Lovano jüngst auch wieder etwas Nachwuchsentwicklung und Pflege des Künstlerstamms.

Ob die Down Beat-Kritiker sich im vergangenen Jahr auch ein wenig gegen die Labelpolitik von Verve entschieden haben, um ein Zeichen gegen die konzerninterne Umstrukturierung zu setzen? Fakt ist, dass die aus Verve, GRP und Impulse! hervorgegangene Firma Universal Jazz zunächst einmal ihren Künstlerstamm empfindlich reduziert hat. Dass darunter auch die in New York überaus erfolgreiche Pianistin Geri Allen ist, kommentierte der Immer-noch-Verve-Künstler Charlie Haden so: „Nicht Geri Allen hat verloren, sondern Verve.“ Neben dem Saxofonisten Pharoah Sanders gehört auch der von Down Beat zum Posaunist des Jahres gewählte Steve Turre zu den Musikern, die ihren Plattenvertrag bei Verve verloren.

Der 31-jährige James Carter ist nicht nur der renommierteste Saxofonist seiner Generation, der Virtuose hat sich mit sperrigen Plattenprojekten und einer atemberaubenden Live-Show einen Namen gemacht. Celebrities wie Harry Belafonte und Bill Cosby schauen vorbei, wenn er auftritt. Mit seinem Electric Quintet schockte er kürzlich ein amüsierwilliges Publikum im New Yorker Edel-Jazzclub Blue Note, laut und verzerrt wie auf seiner gerade erschienenen Funk-CD „Layin’ In The Cut“. Den Sticker „his first electric Album ever“ musste die Plattenfirma auf Carters Einwand hin von den CD-Schachteln wieder entfernen, da es sich für ihn so las, als hätte er zuvor nicht genügend Geld gehabt, sich den Strom für elektrisch verstärkte Instrumente leisten zu können.

Auch den Sticker „Django Reinhardt Tribute“ für die zeitgleich veröffentlichte Carter-CD „Chasin’ The Gypsy“ lehnt der Künstler ab, weil er diese Aufnahmen als Hommage an den Jazz der 30er- und 40er-Jahre verstanden wissen will und nicht nur an einen einzelnen Musiker aus jenen Tagen. Was der nun von Down Beat ausgezeichnete Baritonsaxofonist rau und aggressiv ausbreitet, ist akustischer black talk – ohne Worte, aber von einer selten gehörten Intensität. Aktuelle Titel wie „Motown Mash“ oder „Terminal B“ deuten an, dass es laut und ungeschliffen zugeht. Tatsächlich handelt es sich bei Carters Besetzung um die wildeste Band der aktuellen afroamerikanischen Jazzszene.

CHRISTIAN BROECKING