Immer schön scheitern

Hallo, hier Hauptstadt, hallo, hier Sprachrohr: Ein halbes Jahr lang haben sich die Berliner Bühnen unter großem medialem Aufwand heiser geschrien. Ein Rückblick auf die vergangene Spielzeit

von CHRISTIANE KÜHL

Wenn sich heute Abend im Deutschen Theater der letzte Vorhang der Spielzeit senkt (und im Deutschen Theater gibt es noch Vorhänge), dann ist sie vorbei, die Theatersaison 1999/2000 in Berlin. Dann herrschet sommerliche Stille auf den großen Bühnen, in den Ohren aber, da rauscht es. Etwa wie nach einem lauten Konzert, wenn man auf die Straße tritt, der Verkehr ruht, die Stadt schläft, aber es unter der Schädeldecke beständig weiterbrummt. Man kann dann die Hände über die Ohrmuscheln halten, mit der Resonanz im eigenen Kopf spielen und fragen: Was war da eigentlich gerade?

War da was? Selten gab es solch ein Getöse um eine Spielzeit in der Hauptstadt, die doch beinahe nur eine halbe war. Im Januar erst hatten die lang erwarteten und heiß herbeigeredeten Neuanfänge an der Schaubühne und am Berliner Ensemble begonnen, im Februar folgte das Experiment „Kammer“ des Deutschen Theaters. Thomas Ostermeier, Teamchef am Lehniner Platz, und Claus Peymann, Direktor am Brecht-Platz, hatten sich da bereits ein halbes Jahr medial heiser geschrieen. Stefan Otteni und Martin Baucks hätten aus den Kammerspielen heraus auch gerne mitgetönt, als überregionale No-Names ließ die Presse sie aber nicht.

Das österreichische Nachrichtenmagazin News rief damals hiesige Feuilletonredakteure mit einem Fragenkatalog an, der feststellen sollte, wie sehr die deutsche Theaterlandschaft vor Peymann zitterte. Das war schon fast rührend, welche Durchschlagskraft man im Burg- und Haiderland einem alternden Rebellen im Neuen Berlin zutraute. Nach der BE-Eröffnungspremiere, Taboris alberner „Brecht-Akte“, riefen die Wiener Kollegen dann auch nicht mehr wie angekündigt fürs aktuelle Statement zurück. Nach den vernichtenden Kritiken ist ihnen die abschiedsselige Heldengeschichte vermutlich selbst ein wenig albern vorgekommen.

Im Folgenden importierte Peymann eine Reihe von Inszenierungen, die südlich der Grenze in der Vergangenheit das Publikum wohl vehement polarisiert hatten, hier in der Gegenwart aber kaum jemanden interessierten. Ästhetisch wurde dem nichts hinzugefügt, sieht man vielleicht von seiner „Richard II“-Produktion ab, die man in dieser Situation einen Achtungserfolg nennen könnte. Umgekehrt proportional zum schwindenden Kritikerinteresse veröffentlichte das BE wachsende Pressemitteilungen über die gute Auslastung des Hauses. Irgendwohin musste das Westberliner Bildungsbürgertum ja auch gehen, nachdem man ihnen die gute alte Schaubühne genommen hat.

Peymann weiß um diesen Reflex. Selbst ihm, der „ein klinisch totes Haus wieder zum Blühen gebracht hat“, wie er auf der Spielzeitabschlusskonferenz beständig wiederholte, fehlt zum angepeilten Ideal des „Hauptstadttheaters aller Deutschen“ in Berlin-Mitte eine Kleinigkeit. So ist er nun „auf der Suche nach der ostdeutschen Großbourgeoisie, die verloren gegangen ist“.

An der Schaubühne hat man so ein resümierendes Gepräch gar nicht erst anberaumt. Die künstlerische Leitung des Hauses, die sich vor einem halben Jahr noch nackt auf einer Doppelseite der Zeit anpries, agiert heute aus gegebenem Anlass etwas verhaltener der Presse gegenüber. Vom Ende des Kurfürstendamms wurde den Redaktionen lediglich schriftlich mitgeteilt, dass die zweite Spielzeit mit Sasha Waltz’ „Körper“ eröffnet werden würde. Eine erstaunlich unbekümmerte Forcierung des War-da-was; schließlich war die erste Spielzeit mit derselben Choreografie gestartet. In der Zwischenzeit entstand, was andernorts mittlerweile hämisch „das Theater der kleinen Formate“ genannt wird. Das größte an ihm ist sein Anspruch. „Sprachrohr der Sprachlosen“ oder dramatischer Übersetzer des „Zusammenbruchs der befriedeten westlichen Welt“ wird man mit gepflegten Miniaturen nicht.

Wobei Häme falsch am Platz und die Tatsache, dass es an der Schaubühne überhaupt ein Wollen gibt, durchaus zu begrüßen ist. An den meisten anderen Hauptstadttheatern ist ein solches nämlich gar nicht mehr zu erkennen. Das Deutsche Theater endete den Neustart seiner Kammerspiele sang- und klanglos; und der auch im großen Haus glücklose Intendant Thomas Langhoff – zwei Uraufführungen mussten nach wenigen Aufführungen abgesetzt werden – gefällt sich selbstmitleidig in der Rolle des entmachteten König Lear. Das tief verschuldete Theater kann theoretisch in der nächsten Spielzeit gar keine Neuproduktion auf die große Bühne bringen. Schuld an der Misere, da argumentiert der Hausherr wie Kollege Peymann, ist die kleingeistige Berliner Politik. Dass auch in dieser Spielzeit, wo mit zwei großen Neuanfängen und einer noch immer großen Volksbühne extrem viel und Großartiges möglich war, am Ende wieder die Kulturpolitik im Zentrum der Diskussion steht, ist ein verdammtes Armutszeugnis. Fraglos sind die finanziellen Rahmenbedingungen, die der neue Kultursenator und der fast ebenso neue Staatsminister für Kultur für die Bühnen aushandeln, wichtig für die Kunst – aber ein wenig subventionsunabhängige Vision muss möglich sein. Auch in der Hauptstadt, die ihr Strahlen über Leuchttürme zu definieren sucht.

Berlin war diese Saison angetreten, das Theater neu zu erfinden. Dass das nicht gelang, ist schade, aber nicht schlimm. Die Potenz des Scheiterns unterscheidet das Theater nämlich durchaus positiv vom Musical, Hollywoodfilm oder anderem warenförmigem Entertainment. Allerdings sollte es, wenn es scheitert, in Würde scheitern. Das setzt ein Wollen, eine Vision voraus. Ohne Utopie endet Schauspiel entweder im Kunsthandwerk, was leider häufig der Fall ist, oder es scheitert in Arroganz, wie jetzt das BE.

Selbst die Volksbühne, einst willentlich Hauptzentrale potenzieller dramatischer Abstürze, agiert momentan in einer Art hauptberuflichem Zynismus und schließt so echte Höhenflüge aus. Die Schaubühne hingegen hat ihr Anliegen noch nicht viel weiter als in den Sozialkitsch geführt. Und zu allem Überfluss scheint die freie Szene, die in den letzten Jahren mit Künstlern wie Sasha Waltz, Stefan Bachmann oder Lars-Ole Walburg über große Energien verfügte, seit deren Übertritt ins Staatstheater vorübergehend ausgepowert. Die Hauptstadt schreit weiter „Hallo, hier Hauptstadt!“ in die Republik, aber ihre nächste Theatersaison wird mit Sicherheit etwas leiser daherkommen. Das ist gut so. Wenn nicht so ein Krach ist, kann man nämlich viel besser hören.