Radha, Krishna und die Liebe in Gstaad

Bollywood auf der Alm: Aus Kostengründen werden indische Bergfilme jetzt nicht mehr in Kaschmir, sondern in den Schweizer Alpen gedreht
von DOROTHEE WENNER

„Hol mir ein Vegi-Sandwich und bring meine Handtasche“, bittet Preity Zinta, 23, ihren persönlichen Assistenten, der einen Sonnenschirm schützend über den Bollywood-Star hält und sie zum bereit gestellten Klappstuhl begleitet. In Bombay wären mindestens vier Personen mit diesen Aufgaben beschäftigt, doch diese Szene spielt am Ufer des Genfer Sees. Preity Zinta schaut mit etwas spöttischem Lächeln einer behelmten Kleinfamilie hinterher, die auf silbernen Yuppie-Rollern die Promenade entlangfährt. „Es verblüfft mich immer wieder, wie die Schweizer ihre Freizeit verbringen.“ Die Garderobiere bringt Preity Zinta ein Vanilleeis, doch sie lehnt bedauernd ab. „Das Schlimme ist: Vor der Kamera legt man automatisch vier Kilo zu!“

Dabei sieht ihr Babyspeck zwischen der hautengen weißen Hose und dem orangen T-Shirt wirklich allerliebst aus. Acht Tage dreht Preity Zinta gemeinsam mit Superstar Sunny Deol in der Schweiz die Song-&-Dance-Szenen für den neuen Film „Farz“ („Die Pflicht“). Regisseur Raj Kanwar – in Indien für gefühlsbetonte Familienfilme bekannt – und sein Produzent Sunil Saini setzen damit eine wundersame Tradition des Bollywood-Kinos fort, die zu erklären einen kleinen Sprung über einige Jahrtausende zurück verlangt.

Eine berühmte Episode des „Ramayana“-Epos, dem hinduistischen Äquivalent zur Bibel, erzählt, wie der Gott Krishna eines Tages das Milchmädchen Radha trifft und die beiden sich bei leichtfüßiger Annäherung in bukolischer Landschaft ineinander verlieben. Diese Geschichte ist der Archetyp romantischer Liebe im indischen Kulturkreis und wird seither immer wieder im Volkstheater inszeniert. Da das Hindi-Kino bis heute aufs Engste mit der Theatertradition verknüpft ist, darf dieses romantische Element im Kino niemals fehlen. Eine goldene Produzentenregel in Bollywood besagt sogar, dass ein indischer Film mindestens fünf Songs braucht, um kein Flop zu werden. Die Gesangseinlagen müssen aber nicht unbedingt logisch mit der restlichen Story verknüpft sein: Sie sind eher als erotische Wunschvorstellungen von Held und Heldin bzw. vom Publikum anzusehen. Wichtiger als dramaturgische Kontinuität ist daher, dass die Kulissen auf einer cinematografischen Metaebene mit erfinderisch-erotischem Bildvokabular zum Träumen einladen. Ohne Rosen, Springbrunnen oder Bäume ist das kaum zu machen.

Bis in die 80er-Jahre fuhren Filmteams vorzugsweise nach Kaschmir, um in den grünen, blühenden Hügeln jenes Paradies vorzufinden, in dem die Filmliebespaare wie einst Krishna und Radha unbeschwert „Hasch mich“ spielen konnten. Die politischen Entwicklungen machten die Region Ende der 80er-Jahre jedoch für Dreharbeiten unzugänglich. Regisseur Yash Chopra war der Erste, der damals außerhalb Indiens nach einem Ersatz-Kaschmir suchte. Er entdeckte die Schweiz und fuhr mit seinem Team ins Berner Oberland.

„Chopra hatte vor uns bereits drei Tourismus-Unternehmen verschlissen, als wir schließlich mit seiner Betreuung beauftragt wurden“, erinnert sich der bodenständige Unternehmer Tritten an die helvetisch-indischen Pionierjahre, „in diesem Geschäft braucht man vor allem gute Nerven.“ Die hat der blonde Voralpinist offenbar reichlich, denn inzwischen ist seine Firma mit Sitz im geranienüberwucherten Zweisimmen zu einer Schaltstelle der gigantischen Bollywood-Industrie geworden. Letztes Jahr betreute Tritten-Filmlogistik insgesamt 47 indische Teams! Wobei Tritten am Ende entscheidet, wer wo dreht: „Ich achte sehr genau darauf, dass beliebte Kulissen wie etwa die Holzbrücke von Luzern nur in einem Film pro Jahr auftauchen – sonst nutzen sie sich zu schnell ab.“

Zum All-Time-Favorit indischer Filme – der gelb blühenden Wiese mit schneebedeckten Bergen im Hintergrund – sind im Laufe der letzten Jahre auch immer mehr städtische Kulissen für die Song-&-Dance-Szenen entdeckt worden. „Den Indern gefallen oft auch Orte, wo wir nie drehen würden – Hauptsache, es ist bunt, und das kann eben auch mal ein normaler Busbahnhof sein.“

Schier unendlich scheinen die Motive für indische Filmteams in den Schweizer Posterlandschaften – und so läuft das Geschäft für Tritten wie geschmiert. Inzwischen hat seine Firma Filmequipment im Wert von 500.000 Franken angeschafft – eine sichere Investition. Denn wann immer indische Produktionen in der Schweiz drehen wollen, wird ein Fax nach Zweisimmen geschickt. Und zum verabredeten Zeitpunkt steht ein Tritten-Bus am Flughafen Zürich bereit.

„Ihr Tropenköppe!“, entfährt es Jean-Pierre Francioli, als beim Besteigen der Yacht seine Schuhe in den Wellen des Genfer Sees verschwinden. Francioli ist als Tritten-Mitarbeiter für die „Farz“-Produktion Busfahrer, Aufnahmeleiter und Übersetzer in einer Person. Zum Glück ist die Stimmung am Nachmittag sehr gelassen, denn der erste Song ist fast abgedreht. Sunny Deol und Preity Zinta tanzten zur Zufriedenheit der beiden Choreografen direkt am Seeufer, beim historischen Karussell, vor dem berühmten Jeu d’eaux – und sollen zum Abschluss noch mit einer Yacht durch den Sonnenuntergang brausen.

Zwei Genfer Blondinen haben sich auf den von Francioli eingefädelten Deal eingelassen, 2.000 Franken kassiert und verschwinden für die nächsten zwei Stunden mit den beiden Stars und 12 weiteren Teammitgliedern auf dem See. Zuweilen sieht man das Boot am Horizont vorbeifahren, Held und Heldin mal stehend im Fahrtwind, mal sitzend, eng umschlungen. Der ohrwurmverdächtige Song zu diesen Bildern heißt „Days of love“: „Tage der Liebe, Nächte der Liebe, du bist mein Morgen, du bist mein Abend – meine einzige Berufung im Leben ist es, dich fortan immer nur zu lieben ...“

Nach Drehschluss reist das 30-köpfige Team zurück ins Berner Oberland, ins Hotel nach Rougemont. Preity Zinta spielt vom vordersten Sitz aus eine Weile die DJane, weil sie eine Schwäche für die „wunderbar altmodische Musik im Schweizer Radio“ hat. Danach verkürzt man sich auf den hinteren Reihen die Zeit, in dem ein Bollywood-Song nach dem anderen angestimmt wird, wobei der jeweils nächste mit dem letzten Wort des vorherigen beginnen muss. Etwa 2.000 Songs, so eine landläufige Schätzung, zählen zum Repertoire eines durchschnittlichen indischen Kinogängers. „Days of love“ wird sicher bald dazugehören ...

Das Hotel ist ein luxuriöses Chalet, auf dessen Parkplatz –temporär – eine indischen Garküche eingerichtet wurde. „Sie verstehen sicher, dass wir niemals deutsche Reisegruppen hier unterbringen, wenn die Inder hier sind“, so der dänische Hotelier, „allein dieser Essensgeruch! Aber schlimmer noch ist, dass die praktisch nie schlafen und sich ständig von Balkon zu Balkon unterhalten!“ Jedenfalls ist das indische Frühstück, das der von Tritten-Filmlogistik eingeflogene Koch morgens um sieben zubereitet hat, exzellent. Aber der Himmel ist grau, es regnet, und die geplante Szene auf dem Gletscher kann nicht gedreht werden. Unter den Entscheidungsträgern macht sich Nervosität breit, offenbar gibt es Meinungsverschiedenheiten. Erst am alternativen Drehort – der Fußgängerzone vom Nobelort Gstaad – wird klar, dass nicht allein der überraschende Ortswechsel die extreme Anspannung bei Regisseur, Produzenten und Choreografen ausgelöst hat.

„Preity Zinta muss vielleicht noch heute Abend abreisen, wir stehen unter einem Wahnsinnsdruck“, raunt Sunil Saini uns zu. Eine allzu vertraute Situation für Bollywood-Produzenten: Die Topstars drehen parallel bis zu 20 Filme gleichzeitig und können eigentlich nie die Drehpläne einhalten, weil gleichzeitig an zwei, drei anderen Orten ganze Studiomannschaften auf sie warten. Auch das macht das Drehen in der Schweiz für indische Filmproduktionen so attraktiv: Die Stars sind sozusagen 24 Stunden verfügbar und können nicht entwischen. „Zudem ist es für uns einfach sehr billig hier: Wir kommen mit nur 25 bis 30 Leuten her – in Bombay brauchen wir mindestens 100 Personen im Studio, und um diese Jahreszeit kann man bei uns wegen des Monsuns fast nur im Studio drehen. Hier haben wir im Sommer bis zu vier Stunden ausgezeichnetes Licht und wunderbare Motive, wir können überall ungestört arbeiten“, erklärt Saini die scheinbar widersprüchliche Tatsache, dass Filmteams aus Indien auch aus Kostengründen vorzugsweise in einem der teuersten Länder der Welt drehen.

In Bombay würde ein Straßenauftritt von Sunny Deol oder Preity Zinta auf der Stelle Massenaufläufe verursachen – in der Schweiz hingegen reisen nur am Wochenende einige indische Botschaftsangestellte wie Groupies dem Bollywood-Team hinterher, die sehr höflich und nur in Drehpausen um Fotos und Autogramme bitten.

In Gstaad bimmelt die Glocke der malerischen Kapelle eine elegante cremefarbene Taufgesellschaft zusammen. Preity Zinta, heute in enger Tigerfellhose und Leder ganz ihrem Image gemäß als „modern Indian girl“ gekleidet, telefoniert via Handy seit fast einer halben Stunde mit Bombay. „Kann man dieses Gebimmel nicht abstellen? Es macht mich rasend!“ Das ist wenig später kaum mehr nötig, denn auf dem Holzwägelchen wurde die Lautsprecherbox zum Set geschafft, und schon dominiert Bollywood-Musik die sonntägliche Morgenstimmung. Der Choreograf und seine Assistentin zeigen den beiden Stars die nächste Schrittfolge vor den blank geputzten Schaufensterfassaden. „One, two, three – kick!“ Sunny Deol braucht eine Weile, bis die walzerähnliche Wendung schwungvoll genug aussieht – für den Actionheld ist Tanzen ein notwendiges Übel, bei harten Prügelszenen oder hinter dem Steuer seines eigens gemieteten Landrovers fühlt er sich offensichtlich wohler.

„Die sollte sich mal etwas bequemeres Schuhwerk zulegen“, kommentiert ein vorbeilaufender Wanderer verständnislos Preity Zintas Aufmachung. Irgendwie scheinen am Drehort indische und helvetische Vorstellungen von Ästhetik weit voneinander entfernt, doch Bollywood hat die Schweiz für das breite indische Publikum zum Inbegriff des exotischen Paradieses gemacht. „Switzerland“, nennen Bombayer Sekretärinnen inzwischen unisono als das absolute Traumziel ihrer Flitterwochen. Preity Zinta hingegen verbringt ihre Ferien lieber in Australien – die Schweiz hat sie bislang immer nur in härtesten Stresssituationen kennen gelernt. Wohl 18-mal ist sie vor dem Gartenzaun eines urigen Holzhauses in Zweisimmen auf und ab gelaufen, neben ihr der besorgt dreinblickende Produzent. Sie telefoniert wieder mit Bombay.

Drehbereit wartet eine eilig von Jean-Pierre gemietete, gelbe Suzuki auf die nächste Szene, die Fahrt von Held und Heldin über eine romantische Bergstraße. Es ist früher Abend, und noch immer ist unklar, wann der Star abreisen muss. Tatsächlich kommt das erlösende O.K. auch erst am nächsten Morgen, gegen sechs Uhr in der Früh – da erst darf der seit Stunden in Bereitschaft gehaltene Schweizer Taxifahrer nach Hause fahren. Und so kann auch noch die letzte Song-&-Dance-Szene für „Farz“ im Hallenbad und auf einer wunderschönen Wiese abgedreht werden. Wir gingen anschließend noch ein wenig im herrlichen Berner Oberland wandern. Doch je schöner die Aussichten wurden, umso schmerzhafter vermissten wir nach den Tagen mit dem Bollywood-Team ein tanzendes indische Paar inmitten der Milka-Wiesen ...

Hinweise:„Im Sommer kann man bei uns wegen des Monsuns fast nur im Studio drehen“Bei Bombayer Sekretärinnen ist die Schweiz Traumziel für Flitterwochen