Liebesleben im Triebwagen

■ Neu im Kino: In seinem romanzenhaften Debütfilm „Tramway Silence“ erzählt der Belgier Frank van Passel, wie ein schweigsamer Mann wieder zu fühlen lernt

Scheinbar fliegt dem jungen Harry alles zu. Wenn er in einem Altbau eine Wohnung sucht, bringt sich prompt eine Mieterin um, so dass ihr „Studio“ für ihn frei wird. Wenn er in einem Imbiss die Stellenanzeigen durchliest, kündigt prompt eine Küchenhilfe und schmeißt ihm seine Schürze und seinen Job direkt vor die Nase. Und wenn er eine Straßenbahnfahrerin nach einer Adresse fragt, erntet er von ihr prompt einen Blick, der mehr in Aussicht stellt als die Angabe der richtigen Haltestelle.

Eigentlich hätte dieser „Harry im Glück“ allen Grund, in den märchenhaften ersten Minuten des Films zumindest ein wenig zu lächeln. Aber er bleibt verschlossen und scheinbar völlig ungerührt: Er ist ein Mann, der nichts fühlen kann! Seit seine Eltern und sein Bruder bei einem Autounfall vor seinen Augen starben, wandelt Harry wie ein Zombie durchs Leben. Immer dick in Wollsachen eingepackt, immer mit einer Strickmütze auf dem Kopf, denn durch das Kindheitstrauma verlor er alle Haare. Der belgische Regisseur Frank van Passel erzählt nun in seinem Debütfilm, wie dieser Harry wieder zu fühlen lernt.

Eher zu viel als zu wenig fühlt dagegen die Straßenbahnfahrerin Jeanne, deren Liebesleben nach dem kurzen Blick von Harry im Triebwagen heftigst aus dem Gleis läuft. Da gibt es zwar einen Kollegen in der Funkzentrale, der ihr seine Liebesgedichte und unbeholfenen Heiratsanträge über die Funkanlage der Straßenbahn stammelt, aber die ruppige und kratzbürstige Jeanne verguckt sich immer mehr in den schweigsamen Harry, der bei jedem Schritt auf sie zu schnell wieder zwei zurück macht.

Die melancholisch schöne Liebesgeschichte wird in einer Reihe von skurrilen Tableaus erzählt: Bei jeder Szene schwelgt van Passel in äußerst eigentümlichen Stimmungen, und er vermag virtous Dinge mit Emotionen aufzuladen. Etwa ein paar goldene Schuhe (Aschenputtel lässt grüßen), die einsam durch das zeitlose, verregnete Brüssel schwebenden Straßenbahnen oder der langsam in sich zusammenfallende Altbau, in dem die beiden wohnen und von der verschrobenen Vermieterin Denise streng überwacht werden.

Diese trinkt zu viel und ist auch nach 40 Jahren noch nicht über den Verlust ihrer großen Liebe hinweggekommen, und ausgerechent von ihr holt sich Jeanne Tipps dafür, wie sie Harry verführen kann. Der hat auch keine besseren Ratgeber: Bei der Arbeit lernt er die Tellerwäscher Bert und Desire kennen, zwei tumbe Toren, deren Köpfe nur mit Bier, Autos und scharfen Bräuten gefüllt sind, und die Harry zu Liebestaktiken raten, die natürlich unfehlbar nach hinten losgehen. In den Szenen mit diesen Nebenfiguren entwickelt van Passel einen eigensinnigen, sehr trockenen Humor, die Sequenzen zwischen Harry und Jeanne sind dagegen sehr zärtlich und immer auf der Kippe gehalten.

Beide sind sich nie einander sicher, und die nervöse Spannung zwischen den beiden, der ständige Stimmungswechsel zwischen sanft und grob, tänzerisch und unbeholfen, abweisend und sehnsüchtig wird sehr intensiv, glaubwürdig und sympathisch von den beiden Hauptdarstellern Frank Vercruyssen und Antje de Boeck bewältigt. Man schaut ihnen gerne bei ihren poetisch-zögerlichen Liebensmühen zu und ärgert sich schließlich nur darüber, dass van Passels ihnen kein Happy End gönnt. Aber neben der Liebe will er in „Manneken Pis“ (so der viel schönere Originaltitel) unbedingt auch noch vom Tod erzählen, und leider hat er die fatale Tendenz, diesen noch schöner zu inszenieren als die Romanze.

Wilfried Hippen

täglich bis Dienstag um 22 Uhr im Kino 46 (OmU)