Zimmer mit neuer Aussicht

Der Neuköllner Frührentner Günter Schulz zieht mit seinem Wohnzimmer in die Fußgängerzone von Mülheim an der Ruhr. Selbst sein Fenster kommt mit. Das Ganze ist ein Kunstprojekt seines Nachbarn

von MAJA SCHUSTER

Über dem Tisch hängt ein großes Panoramagemälde von einem Fischerhafen. Die vergilbten Wänden sind mit Fotos von Verwandten dekoriert. Dazu altmodisch wirkende Bilder aus Stroh, Landschaftsansichten, ein Hirschfell und einige Sinnsprüche, gerahmt. Ansonsten ein voll beladener Schrank, ein Bett, mehrere Sessel und eine Truhe. Ein ganz normales Wohnzimmer mitten in Neukölln.

Doch was dem Zimmer und seinem Bewohner bevorsteht, ist nicht normal: Im September werden sie in die Fußgängerzone in Mülheim an der Ruhr verpflanzt. Das Kunststofffenster ist bereits nachgebaut. Das verblichene weißbraune Kissen, auf dem der grauhaarige Frührentner Günter Schulz lehnt und in den Hof guckt, kommt mit. Genau wie ein Teil des Interieurs. Die Lampe mit dem Fliegenfänger, die Musiktruhe, auf der Elvis als Barbie steht. Auch Fernseher, Tisch und Bilder ziehen zeitweilig um.

Da Günter Schulz lange nicht mehr im Urlaub war, freut er sich auf seine zweiwöchige Reise im September, die er seinem Nachbarn Christian Hasucha verdankt. Und verschiedenen Mülheimer Unternehmen, die die Arbeit des Aktionskünstlers Hasucha unterstützen. Der lebt seit einem Jahr schräg gegenüber des besagten Zimmers. Und da Günter immer im Fenster zum malerischen, kopfsteingepflasterten Hof sitzt, lernten sich die beiden kennen. Inzwischen sind sie gut befreundet. „Er ist Lebenskünstler, ich bin Künstler“, sagt Hasucha und klopft Schulz auf die Schulter.

Der 49-jährige Frührentner ist gelernter Tischler, war Brauereiarbeiter, Zeitungsbote, Pförtner und lebt seit 1994 allein in seiner 40-Quadratmeter-Wohnung im ersten Stock des Mietshauses. Als sein Nachbar Christian Hasucha mit dem Ausbau des Ateliers in den alten Räumen einer Bäckerei im Erdgeschoss des Hinterhofs begann, kam manchmal Günter Schulz, um ihm zu helfen. Und als Hasucha das Angebot der Stadt Mülheim für eine Installation bekam, fragte er Günter, ob er Lust hätte, mit einem Teil seiner Einrichtung und vor allem dem Fenster in die Mülheimer Fußgängerzone zu ziehen. Günter war sofort begeistert.

Vom 15. bis 30. September wird die Fensternische unter Beibehaltung der Himmelsrichtung und der Höhe über Straßenniveau am Rand der Fußgängerzone in Mülheim nachgebaut. Auch dort wird Günter wieder am Fenster auf seinem Kissen lehnen, das Geschehen beobachten, ab und zu runtergehen, um einzukaufen. Nicht in Neukölln, sondern in Mülheim.

„Interventionskunst“ nennt Christian Hasucha seine Werke. „Ich mache das nicht, um ins Fernsehen zu kommen.“ Es geht ihm darum, „ein Stückchen Wirklichkkeit mit einem anderen Stück Wirklichkeit zu konfrontieren“, sagt er bescheiden und lächelt. Der 45-Jährige hat Kunst studiert und in den Achtzigerjahren Berlin verlassen. Weil ihm die Stadt zu langweilig war. Doch letztes Jahr zog es ihn wieder zurück.

Seit 20 Jahren versucht Hasucha, durch das Verschieben von ganz gewöhnlichen Situationen an ungewöhnliche Orte neue Konstellationen zu schaffen. „Günters Fenster“ ist das 35. Projekt aus seiner Reihe „Öffentliche Interventionen“. Vor einigen Jahren ließ der gebürtige Berliner einen Fußgänger auf einem Laufband in 2,50 Meter Höhe in einer Fußgängerzone laufen. Auch für die Biennale in Finnland in diesem Jahr bereitet er ein Projekt vor. Die Verbindung von unterschiedlichen Welten reizt ihn.

In Neukölln faszinieren ihn die Parallelwelten der Menschen unterschiedlicher Herkunft und Ethnien. Der Zuzug der Künstler nach Neukölln in den vergangenen Jahren erfreut Hasucha sehr, der sich in dem Stadtteil mit dem schlechten Ruf sehr wohl fühlt. Auch Günter kann nicht klagen: „Hier wird man gegrüßt, ob man arbeitet oder nicht.“ Es scheint, als würden die beiden das Leben im Bezirk und in ihrem idyllischen Hinterhof mit der 100-jährigen Ulme so richtig genießen. „Vorne braust der Verkehr, und hinten haben wir Klein-Italien“, schwärmt Hasucha.

Auf seine Reise in den Ruhrpott bereitet Günter Schulz sich nicht vor. „Dann hätte die ganze Schose ja keenen Sinn.“ Er wirkt zurückhaltend und gutmütig und hat den Worten seines Nachbarn nicht viel hinzuzufügen. Er freut sich auf den zweiwöchigen Ortswechsel ohne Tapetenwechsel: „Ick hatte noch nie ein Problem mit neuen Dingen.“