158.593 Netzbürger

Die Wählerlisten sind geschlossen, die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers veröffentlicht die erste Liste von Kandidaten für das Direktorium

Der Wahlkampf kann beginnen. Zu den Internetwahlen der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (Icann) kandidieren in der Region Europa vier Männer und eine Frau: Winfried Schüler von der Deutschen Telekom, Alf Hansen von „Uninet“ Norwegen, Olivier Muron von France Télecom, Oliver Popov vom „MARNet“ in Makedonien und Maria Livanos Cattaui von „ICC“. Mehr als die Namen der Personen und der Firmen, für die sie stehen, ist vorerst nicht bekannt, in den nächsten Wochen werden wir vielleicht erfahren, was sie befähigt, im Direktorium der Icann zu sitzen.

Bis zum 14. August dürfen Gegenkandidaten genannt werden. Ob sie tatsächlich aufgestellt werden, entscheidet allein Icann selbst, die dabei ist, ihren letzten Kredit zu verspielen. Erinnert sich noch jemand an John Perry Barlow und seine Unabhängigkeitserklärung für den Cyberspace? „Regierungen der industriellen Welt, ihr zerschlissenen Giganten aus Fleisch und Stahl, ich komme aus dem Cyberspace, der neuen Heimat des Geistes. Schon halb in der Zukunft, bitte ich euch, die ihr in der Vergangenheit lebt: Lasst uns in Ruhe!“

Barlow schrieb Songs für die Kultband Grateful Dead, und etwa so klingt denn auch seine Hymne an die Freiheit. Vier Jahre sind seither vergangen, sie gehört ins Museum der Illusionen, ganz vergessen sollte man sie aber dennoch nicht. Seit einem Jahr versucht die von Bill Clintons Berater Ira Magaziner gegründete Icann ihren Begriff freier Bürger durchzusetzen und uns einzureden, wir sollten uns an den ersten freien Wahlen beteiligen, die im Cyberspace stattfinden.

Lasst uns in Ruhe: Barlows Text mag lächerlich naiv gewesen sein, die Parolen der Icann sind peinlich. Am Montag lief die Frist zur Registrierung in den Wählerlisten ab, seit Dienstag wissen wir, wie viele Bürger der Cyberspace enthält: Es sind genau 158.593. Ganze 787 kommen aus Afrika, 93.782 aus Asien und dem pazifischen Raum, 35.942 aus Europa, 6.486 aus Lateinamerika und der Karibik, 21.596 aus den USA.

Die Zahlen sagen nichts, denn überall hätten es weit mehr sein können. In den letzten Tagen war der Server von Icann ständig überlastet. Schuld daran warenn nicht Hackerattacken, sondern schlichte Anträge von Bewohnern jener neuen Heimat des Geistes, von der Barlow sang. Sollen wir ernstlich glauben, die Organistation, die für Stabilität des Netzes sorgen will, sei nicht in der Lage, ihre Daten zu verarbeiten?

Wenn es so wäre, sollten die Regierungen und Wirtschaftsunternehmen der Icann wegen technischer Inkompetenz das Mandat entziehen. Wahrscheinlicher aber ist, dass kein technischer Mangel zur künstlichen Begrenzung des Wahlvolks geführt hat, das im unübersetzbaren Neusprech der Icann „At Large Membership“ heißt. Unverhohlen spricht Icann-Director Mike Roberts das Motiv aus: Offenbar seien zahlreiche Anmeldungen auf „außerordentliche Anstrengungen“ zurückzuführen, die weit über die Aufgaben der Icann hinausgingen.

Gebetsmühlenartig sollen wir auch jetzt nur den einen Satz wiederholen, dass Icann „keine Regierung“ sei und nur „technische Fragen koordiniere“. Fachleute und Laien haben seit Monaten ebenso beständig darauf hingewiesen, dass auch in der Technik reale Macht steckt. Wer sich heute immer noch weigert, solche Argumente überhaupt nur zur Kenntnis zu nehmen, stellt sich absichtlich dumm. Ob die nun von Icann genannten Kandidaten daran etwas ändern, wird sich zeigen, viel Anlass zur Hoffnung besteht freilich nicht.

NIKLAUS HABLÜTZEL

niklaus@taz.de