Unsere schlimmsten Jahre

Zeitgeschichte im Fernsehsessel (Teil 6): In den 90ern versuppte und verseifte der TV-Alltag, Serien-ÄrztInnen versuchten es mit Fernheilung. Aber auch politische Themen hielten wieder Einzug

von KARL WACHTEL

Nun gut! Jedes Volk bekommt das, was es verdient hat. Trotzdem plädiere ich für die Verhältnismäßigkeit bei der Verteilung von Durchschnitt. Das darf ich sagen, als jemand, der bis dato sechs Bundeskanzler, sieben Bundespräsidenten und fünf Fußballnationaltrainer verbraucht hatte und dreimal Fußballweltmeister geworden war – mit viel Höhen und Tiefen: guten und schlechten Zeiten halt.

Wir hatten sie erlebt. Aber was für eine Zukunft für die, die nicht nur unter der „Abrissbirne“ geboren und wahlberechtigt geworden waren, sondern auch darauf vorbereitet sein mussten, mit ihm alt zu werden. Das Fernsehen war wieder einmal zur Stelle, half unseren Kindern mit einem medialen Überlebenspaket über die Runden.

„Gute Zeiten – Schlechte Zeiten“ (RTL 1992), „Unter uns“ (RTL 1994), „Marienhof“ (ARD 1995), „Verbotene Liebe“ (ARD 1995) ... – da lässt es sich mit Hochglanz träumen, da scheint der Alltag als industriegenormtes Auf und Ab, da werden Probleme und Konflikte in klinisch-aseptischer Manier behandelt. Das tägliche Seifenbad am Vorabend – zwischen Arbeit und Freizeit – das ist Balsam für die Seele: kopfüber in den geistigen Whirlpool der Adoleszenz.

Aber auch wir mussten nicht darben – auch wenn das Fernsehen uns immer weniger im „zielgruppenorientierten“ Visier hatte. Was waren schon die von Toni Hilfinger und Georgi Armani herausgeputzten Jungmimen ohne Gesicht und Kontur – dafür hatten wir Witta Pohl, Gunther Strack und Co. Das war doch etwas: eine vom Leben gebeutelte, von den vielen Weinkrämpfen gezeichnete Familiendrohne neben einem stets nach Luft und Ausgleich ringenden guten Geist in der Provinzsage „Diese Drombuschs“ (ZDF 1994) oder die eiskalten Machenschaften der Industriellenfamilie Jauffenberg in „Der Gletscherclan“ (Pro 7 1994), (auch wenn sie schon bald wieder eingefroren wurde) oder die nie enden wollende Überquerung der Weltmeere mit dem „Traumschiff“ aus Mainz.

Und wir bekamen Sport serviert: ob wir es wollten oder nicht; live oder aufgewärmt; aus jeder Perspektive und Himmelsrichtung; von unzähligen Kameras in Helmen, Skispitzen oder Torwartmützen verfolgt; unter der verbalen Knute von Moderatoren und Experten, die alles, aber auch alles zuplapperten, analysierten und penetrierten. So entgingen uns nicht der banalste Wortwechsel auf der Trainerbank, die unwichtigste Gemütsregung der Akteure oder die geheimen Spindfotos unserer Stars und Sternchen. Wir kannten jedes drittklassige Spielfeld, konnten jede Eckfahne identifizieren, jeden Loop oder Passierball im Schlaf nachspielen, fanden uns in jeder Boxengasse zurecht und gewöhnten uns daran, dass Jürgen Emig und Rudi Altig bei jeder Tour-Etappe der Hungerast ereilte. Sat.1, RTL, Premiere, DSF, Eurosport, ARD und ZDF habt Dank, nur unsere vorzeitige Vergreisung im Schlepptau der ständigen Wechsel von Rechten und Lizenzen nehmen wir euch senil-übel.

Wir waren in die Jahre gekommen und die Zipperlein nahmen zu. Mal zwickte der Rücken, mal erregte BSE unser Immunsystem. „Folge“richtig begaben wir uns per Fernbedienung in die Obhut altbekannter Medizinergrößen. Die Frauen hielten wieder einmal große Stücke auf Sascha Hehn in „Frauenarzt Dr. Merthin“ (ZDF 1994) oder wechselten alternativ zu „Dr. Stefan Frank – Der Arzt, dem die Frauen vertrauen“ (RTL 1995), wir flüchteten uns an den Busen einer Krankenschwester, „Für alle Fälle Stefanie“ (Sat.1 1995), in dramatischen Fällen ging’s mit Blaulicht in die „Notaufnahme“ (RTL 1995), oder wir feierten rührseliges Wiedersehen mit Klausjürgen Wussow in der „Klinik unter Palmen“ (ARD 1996) – mit freundlicher Unterstützung der zuständigen Bundesbehörde!

Wie krank unsere Gesellschaft wirklich war, das sollten wir in diesen Jahren erfahren. Das Leben draußen kontrastierte die inszenierte, heile Fernsehwelt auf erschreckende Weise. Plötzlich waren sie da – die Glatzen und Springerstiefel. Das Fernsehen beschönigte nichts und zeigte erschreckende Bilder von braunem Hass, von Menschenverachtung und Mord – authentisch, brutal. Wir sahen sie, und es fiel uns schwer hinzuschauen, nach Mölln, Hoyerswerda, Solingen und anderswo. Wir wollten uns auch weiter an Vergangenes erinnern, um uns die Gegenwart zu vergewissern.

Das Fernsehen half dabei mit Sendungen wie „Die Bombe tickt“ von Thorsten Nähe (ARD 1993), „Der Verräter“ in der Regie von Diethard Klante (ZDF 1995), „Der Neger Weiß“ von Michael Günther (ZDF 1995), „Drei Tage im April“ von Oliver Storz (ARD 1995) oder Peter Steinbachs Fernsehfilm „Nächste Woche ist Frieden“ (Sat.1 1995).

Die leise Zurückhaltung verblasste mit den Lichterketten, und wer wollte schon Böses vermuten, wenn der Aufbruch ins neue Jahrtausend diktierte „The Show must go on ...“