„Es ist noch immer dunkel“

In der sozialkritischen Tradition des Jazz: Ein Gespräch mit Abbey Lincoln über afroamerikanische Selbstfindung, über Tin-Pan-Alley-Schlager und Schreie in der Musik, zum 70. Geburtstag der Sängerin

taz: Ganz früher waren Sie einmal eine Schlagersängerin . . .

Abbey Lincoln: Ein Sexobjekt, das den Quereinstieg wagte . . . Ich kam aus einer anderen Richtung, die sie Pop nannten. Dabei sang ich immer die Stücke von Billie Holiday, Dinah Washington, Sarah Vaughan, dieses Repertoire eben. Ich bin stolz, dass ich diese Arbeit machen konnte.

Amiri Baraka hat einmal gesagt, wie wichtig es gewesen sei, sich aus dem Tin-Pan-Alley-Knast zu befreien und nicht zum hunderttausendsten Mal „Melancholy Baby“ dudeln zu müssen. Andererseits sind die schlagerhaften Tin-Pan-Alley-Songs großartige Charakterstudien des amerikanischen Alltaglebens . . . was meinen Sie?

Damals ging es nicht nur um Sex, sondern um unsere Welt. „Love for sale“ war ein sozialkritisches Stück, es erzählt von einem speziellen Milieu. Und „Brother, Can You Spare A Dime“ stammt aus der Zeit der Depression. Billie Holiday sang diese Songs. Ich gehe jedesmal in diese Zeit zurück, wenn ich an einem Stück arbeite.

Welchen Stellenwert hat die „Freedom Now Suite“ für Sie, die Sie vor vierzig Jahren mit Max Roach aufnahmen?

Die war nicht politisch, sondern sozialkritisch. Außerdem war es nicht mein Werk, sondern das von Max Roach und Oscar Brown Jr. Ich habe dazu nichts beigetragen außer meiner Stimme auf der Aufnahme. Wir führten sie ein paar Mal in Europa und Japan auf, das war eine schöne Zeit – wir waren einfach nur Musiker, die sich eines Themas annahmen, das uns betraf, das war alles.

Aber die Folgen?

In Amerika mochte man es natürlich nicht; ich habe seitdem auch nie wieder Aufnahmen für amerikanische Produktionen gemacht. Wenn es meinen französischen Produzenten nicht gäbe, hätte man mich bis heute nicht wieder gefragt, in Amerika Platten aufzunehmen – hier wollen sie einen nichts sagen lassen. Doch wenn man es trotzdem tut und auch das viele Ungesagte überlebt, finden sie plötzlich Gefallen daran. Für mich ist das okay – ich wollte sowieso nie jemanden außer mich selbst mit dem, was ich tue, erfreuen. Ich suchte nie nach Bestätigung von anderen. Ich spreche zu meinen Vorfahren beim Singen und sage ihnen, dass ich mich an sie erinnere – dass ich weiß, wer ich bin.

Sie sollen sich zunächst geweigert haben, den Titel „Triptych“ aus Max Roachs „Freedom Now Suite“ zu singen, weil sie meinten, dass die Schreie einer Frau in der Musik nichts verloren hätten. Stimmt das?

Diese Schreie haben vielleicht meine Stimme befreit, aber die Amerikaner konnten damit nicht umgehen. Als 1961 meine Platte „Straight Ahead“ folgte, nannte Ira Gitler mich im Magazin Down Beat eine professionelle Negerin – das hat mir Probleme bereitet.

Erst dreißig Jahre später, mit meiner Platte „You Gotta Pay The Band“, wurde es besser, weil Stan Getz dabei war. Er öffnete mir kurz vor seinem Tod noch einmal Türen. Die Leute dachten wohl, wenn Getz mit so einer zusammen aufnimmt, kann sie nicht so gefährlich sein. Es ist meine einzige Platte, die sich mehr als hunderttausendmal verkaufte.

Hat Sie diese Erfahrung verändert?

Ich denke, da hat sich bei mir nichts geändert. Ich habe immer noch sozialkritische Themen, allerdings keine politischen. Politisch war ich nie, bis etwa 1975 habe ich noch nicht mal gewählt. Ich bin so sozialkritisch, wie Billie Holiday und Bessie Smith es waren, ich singe einfach von meinem Leben.

Wenn ich nicht über mein Leben singen könnte, würde ich gar nicht singen wollen.

Resultieren die Widerstände, die Max Roach und Sie in den 60ern erfahren haben, aus Ihrem Widerspruch zur Musikindustrie?

Die Musikindustrie basiert auf dem, was die Musiker und Vokalisten liefern. Bei unserer Musik in den 60er-Jahren ging es jedoch weniger um kommerzielle Aspekte, sie handelte vielmehr vom menschlichen spirit, der uns das Leben erleichtert. Er ist es, auf den ich mich beim Singen konzentriere, und ich weiß, dass es den Musikern beim Spielen genauso geht – im Mittelpunkt steht einfach der spirit.

Die Musikindustrie ist daran interessiert, Geld zu machen. Sie bevorzugt Musik, die einen Beat besitzt und berechenbar ist; Musik, über die man nicht viel nachdenken muss. Ich bin dankbar, an der anderen Musik teilhaben zu können. Ich kann meine Gedanken denken, meine Geschichten erzählen, und die Leute kommen, um das zu hören.

Die Leute kommen, weil sie Sie kennen. Kennen kann man Sie aber nur, weil ein Franzose Sie produziert . . .

Mein französischer Produzent Jean-Philippe Allard hat mein Leben verändert, meine ganze Karriere. Ohne Europa wäre es sonst tatsächlich sehr schwer für mich gewesen. Ich bin den Leuten dankbar, die ihm Geld geben, damit er jedes Jahr ein neues Album mit mir produzieren kann. Aber klar ist: Die ganze Welt gehört uns doch, und ich möchte auch keinen einzigen Teil von ihr missen.

In den 70ern lebten Sie in Los Angeles. Ausgerechnet dort, in einer Großstadt, schrieben sie „The River“ . . .

Ja, das war so um 1975 herum. Der Song beschreibt den Sound des Highways, in dessen Nähe ich wohnte. Das war am Venice Boulevard, Ecke Marvin Avenue, in einem riesigen Haus. Ich hatte mein Schlafzimmer auf der Vorderseite und hörte die Geräusche des Highways.

Das Herannahen und Sichentfernen der Autos hörte sich für mich wie ein Fluss an. Ich sah mich als Raumfahrerin. Ich nahm den Song zweimal auf, und beim zweiten Mal sah ich mich in einem Raumschiff, Beobachtungen machend und den Vorgesetzten berichtend, was ich auf dem Planeten Erde so sehe. (lacht) Das war einfach wundervoll.

In L.A. entstand auch „Throw it away“ . . .

Ja, das war noch früher. Meine Ehe war gerade gescheitert und die Karriere auch. Alles schien zu Ende zu sein. Und dann habe ich ein chinesisches Buch entdeckt. In dem stand, dass du nichts, was zu dir gehört, verlieren kannst, auch wenn du es wegwirfst. Ich wollte diesen Gedanken dann näher fassen und etwas darüber schreiben, und schließlich tat ich es auch. Die Dinge, die wirklich zu uns gehören, können wir nicht abschütteln. Ich denke, da ist etwas dran – für mich bewahrheitete es sich jedenfalls.

Und im Winter 1961 in New York, da entstand „African Lady“. Im Rückblick wirkt der Song wie aus einer anderen Zeit und doch aktuell, noch immer streitbar . . .

Das war Randy Westons Stück. Zuerst fragten wir, glaube ich, Jon Hendricks, ob er die lyrics schreiben könnte. Schließlich bat Randy dann jedoch Langston Hughes, der sie auch schrieb: „Sunrise at dawn, night is gone, I hear your song, African Lady“.

Wir glaubten zu jener Zeit, dass Afrika sich befreien würde und wir dadurch zu besseren Menschen würden, als wir tatsächlich waren. (lacht) Wir wussten nicht, dass wir so viele Probleme mit unserer Persönlichkeit hatten – ich als afrikanische Frau wusste es zumindest nicht. Mit den Jahren kamen viele Demütigungen, und es scheint immer noch keine Morgendämmerung zu geben – ich denke, es ist noch immer sehr dunkel.

Dennoch hat sich einiges geändert, etwa durch den Aufstieg einer schwarzen Mittelschicht in den USA? Wie sehen Sie das?

Ich denke nicht, dass es eine wirkliche schwarze Mittelschicht gibt. Von den Afroamerikanern hier, die ein bisschen Geld haben in unserer billion dollar economy, hat niemand Milliarden erreicht, vielleicht mal 30 oder 100 Millionen Dollar. Doch niemand von ihnen gibt etwas an die Community zurück. Es werden zum Beispiel keine Konzerthallen gebaut. Das ist sehr amerikanisch, es hat wenig mit der Hautfarbe zu tun – niemand gibt hier etwas zurück. Man arbeitet und ermöglicht anderen etwas, und die machen Geld und bringen es auf die Bank oder investieren es sonstwo, nur nicht in die Leute – das ist bitter, aber wahr. Die Afroamerikaner sind genauso wie die Angloamerikaner: Sie lieben Geld!

Es gibt ja schwarze Entertainer wie Quincy Jones, der mit seinem Qwest-Label und seiner TV-Produktionsfirma Qwest Talentförderung betreibt. Aber steht Ihnen jemand wie Wynton Marsalis näher, weil er sich eine Institution erobert hat?

Wynton ist wie ich und viele andere auch ein Musiker, der seine Sache wunderbar macht, ihn meine ich nicht. Wenn er mit Rock ’n’ Roll zu tun hätte und 100 Millionen Dollar im Jahr machen würde, wäre es etwas anderes. Es gibt immer hervorragende Musiker, die anderen Tribut zollen. Ich meine aber Leute, die 100 Millionen Dollar besitzen und die zehn davon für ein Musikdenkmal in Harlem zur Verfügung stellen könnten. Damit würden sie viele Arbeitsplätze schaffen und Harlem zu einer Touristenattraktion machen.

Wir brauchen eine Förderung, besonders für unsere Kunst. Doch wir bekommen keine – weder von den Athleten, den Komikern oder anderen Gutverdienenden, die die Möglichkeit hätten, etwas zu verändern. Sie geben einfach nichts, sondern investieren ihr Geld woanders.

Ist Ihre nächste CD „Over The Years“ eine Fortsetzung Ihrer musikalischen Autobiografie?

Es handelt sich um Stücke, die mich mein Leben lang begleitet haben – die ich vor langer Zeit schon mal aufgenommen habe, wie „Tender As A Rose“, aber auch um Ausblicke und neue Erfahrungen.

Man darf sich nicht ausruhen, auf dem, was man vor Jahrzehnten gemacht hat. Es gibt nichts Peinlicheres als ein Comeback mit den Sachen von einst. Das Privileg, alt zu werden, gebietet, dass man etwas zu den heutigen Problemen zu sagen weiß.

Interview: CHRISTIAN BROECKING