Domestiziert Ullrich!

Das Rad-Weltcuprennen am Sonntag wird wahrscheinlich in den mythisch steilen Bergen an der Elbe entschieden

HAMBURG taz ■ Es gibt Radrennen. Und es gibt Klassiker. Will ein Radrennen ein Klassiker werden, braucht es vor allem eines: Zeit. Zeit, in der unsterbliche Mythen um Sieg und Niederlage gedeihen können.

Viel Zeit haben die HEW-Cyclassics noch nicht gehabt. Die Retorten-Kreation einer Sport-Marketingagentur und eines Strom-Dienstleisters feiert am morgigen Sonntag gerade mal fünfjähriges Jubiläum. Und weil Organisation und Vermarktung perfekt rollen, weil die Massen wie zum Volksfest strömen und das ehemalige Radsport-Entwicklungsland Deutschland nach der Ankunft der Lichtgestalt Jan Ullrich auch für den Rad-Weltverband UCI wieder Mehrwert verspricht, kämpfen die Profis auf den 251 Kilometern in und um Hamburg zum dritten Mal in Folge sogar um Weltcup-Punkte.

„Das Einzige, was wir nicht bieten können, ist Tradition“, weiß auch Christian Hinzpeter, Medienchef der Veranstalter-Agentur Upsolut. Deswegen fahndet man verzweifelt nach dem gewissen Etwas, das die vom Profil eher leichte Hanse-Schleife sportlich aufwerten könnte. Und siehe da: Tour wurde fündig. Das Rennrad-Magazin, als „Media Partner“ der Cyclassics mit im großen Marketing-Boot, taufte das sechste Weltcup-Rennen in dieser Saison in einem 99er-Nachbericht „Die Unberechenbare“ – ein Attribut, das Upsolut-Chef Christian Toetzke vergangene Woche in einer Pressekonferenz dankbar aufgriff. Unberechenbar? Abgesehen davon, dass wohl jedes Radrennen ein Stück weit unberechenbar ist, sind Zweifel an dieser Charakterisierung angebracht. Ja, ein Blick auf zurückliegende Rennverläufe ergibt sogar, dass die HEW-Cyclassics ziemlich berechenbar sind. Lange Solo-Fluchten etwa haben bisher die jeweiligen Team-Sponsoren nur vorübergehend in Verzückung versetzt. Und ein Massensprint? Ähnlich unwahrscheinlich. Auch wenn der Veranstalter eine Sprintankunft auf der Mönckebergstraße herbeifleht, was angesichts des Top-Feldes verständlich ist. Mario Cipollini hat zwar gestern noch abgesagt, abder der Rest der Sprinter ist am Start: Tom Steels, Marcel Wüst, Robbie McEwen, Jeroen Blijlevens. Und natürlich: Erik Zabel. Der aber mag die Favoritenrolle nicht und ist erfahren genug, um sich über den Rennverlauf keine Illusionen zu machen – zumal Zabel nach einem glänzenden Frühjahr mit zwei Klassiker-Siegen (Mailand–San Remo, Amstel Gold) im weißen Trikot des Weltcup-Führenden antritt und so unter besonderer Beobachtung der Konkurrenz stehen wird. Die wird ihm eine gut besetzte Fluchtgruppe nicht gönnen.

Aber dem Team Telekom gelang es schon in den Vorjahren nicht, einen Sprint für Zabel zu organisieren. Auch ein wiedererstarkter Jan Ullrich als Edeldomestike kann das jetzt nicht garantieren. Hier entpuppt sich der Waseberg denn doch als tückisch. Dreimal muss die 16-prozentige, 300 Meter lange Steigung im Nobelviertel Blankenese überwunden werden. Härter als der Hügel selbst sind die Positionskämpfe im Vorfeld. Wer bei der letzten Überfahrt nicht vorn mit dabei ist, büßt in der folgenden Abfahrt schnell entscheidenden Boden ein. So spricht vieles wieder für eine kleine Gruppe, die sich hier auf den letzten 15 Kilometern davonstiehlt, für einen Gewinner, den niemand auf dem Zettel hatte.

Im gewaltigen Jedermann-Feld – 10.500 Hobby-Radler absolvieren wahlweise 60, 110 und 170 Kilometer – tritt dafür ein Promi in die Pedale, der sich noch im letzten Jahr bis ins späte Frühjahr hinein Hoffnung auf eine Tour-De-France-Teilnahme gemacht hatte. Wer sich also fragt, ob er’s ist oder nicht, der schlanke Hüne mit der hohen Stirn: Ja, es ist Bjarne Riis. Seine VIP-Mitradler müssen den Tour-Gewinner des Jahres 1996 aber nicht fürchten. „Ich werde natürlich nicht auf Sieg fahren“, verspricht der Däne, der nach seinem Abschied auf Raten vom Team Telekom das Dolce Vita in Italien genießt und auch in Hamburg „nur Spaß“ haben will.

JÖRG FEYER