Aus der Debattenindustrie

Ressentiment statt Aufklärung: Norman G. Finkelstein bleibt die Belege zu seiner These der Instrumentalisierung des Holocaust weitgehend schuldig

von BRIGITTE WERNEBURG

Warum konnte Benjamin Wilkomirski so lange unentdeckt bleiben? Und damit der Schweizer Bruno Doessecker, der sich in seinem Buch „Bruchstücke“, eine Kindheit in den Vernichtungslagern der Nazis herbeiphantasiert hatte, den Preis der Zeitschrift Jewish Quarterly sowie den Jewish National Book Award und den Prix de Mémoire de la Shoah gewinnen? Norman G. Finkelstein, Professor an der New York City University, sagt: weil Der Holocaust einen solchen Betrug geradezu herausfordert. Der Holocaust, den Finkelstein immer großschreibt, ist nach seiner Auffassung entschieden gegen die nationalsozialistische Vernichtung des europäischen Judentums abzugrenzen. Denn anders als der historische Holocaust ist Der Holocaust ein politisch-ideologisches Konstrukt jüngeren Datums, das das Leiden und den Tod der von den Nazis ermordeten europäischen Juden zu ganz eigenen Zwecken ausbeutet. Und diese Zwecke kulminieren nach Finkelstein darin, jegliche Kritik an der Politik Israels und der diese Politik unterstützenden jüdischen Organisationen von vornherein moralisch zu disqualifizieren und politisch zu entwerten.

Polemische Anklage

In Zeiten, in denen die Delegitimierung von Politik anhand moralischer Kategorien ganz allgemein zu beobachten ist, könnte eine Fallstudie wie sie „The Holocaust Industry. Reflections on the Exploitation of Jewish Suffering“ vermuten lässt, erhellende Einblicke in einen generellen Prozess liefern, in dem politische Begriff wie „Macht“, „Interessen“, „Ideologie“ durch völlig neuartige Kategorien wie „Erinnerung“ und „Betroffenheit“ ersetzt werden. Doch leider ist Finkelsteins Essay kaum Genealogie und schon gar nicht Anatomie Des Holocaust, sondern eine Anklage. Und mehr noch ist der Essay eine wütende Polemik – im Besonderen gegen Elie Wiesel, Daniel Goldhagen und Yehuda Bauer wie gegen eine jüdische amerikanische Mittelklasse, der er nicht nur vorhält, dass sie politisch nach rechts gerückt sei und im Zweifelsfall eher republikanisch als demokratisch wähle, sondern dass ihr Einkommen statistisch doppelt so hoch sei wie das von Nichtjuden.

Norman G. Finkelsteins Buch ist noch nicht ins Deutsche übersetzt, ja, es ist gerade mal vor zwei Wochen in London erschienen. Dennoch soll sich im deutschen Sommerloch an dem schmalen Band wieder eine dieser Historikerstreit-Goldhagen-Walser-Debatten entzünden, die keine räsonierenden Zirkel, sondern nur noch Parteien kennt. Die Hamburger Woche jedenfalls ist seit zwei Ausgaben dabei, die Sache mit einem auszugsweisen Vorabdruck, mit hurtig eingeholten Prominenten-Statements und einem Autoreninterview anzuschieben. Auch ein Opferporträt fehlt nicht. Es handelt von Gizella Weisshaus, die 1996 die große Sammelklage gegen die Schweizer Banken ins Rollen brachte. Heute fühlt sie sich von ihrem Anwalt hintergangen, der rund acht Millionen Mark Honorar fordert. In ihm sieht Weisshaus einen Handlanger des World Jewish Congress und der Claims Conference, die die rund zweieinhalb Milliarden Mark der Schweizer Banken bislang nicht an die Geschädigten weiterleiteten. Sie fürchtet, das Geld gehe an jüdische Einrichtungen und den Staat Israel. Vielleicht wird der Name der Debatte, so sie denn überhaupt statthat, am Ende Entschädigungsdebatte lauten.

Selbst wenn es nicht ausgeschlossen ist, dass die Entschädigungsgelder, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs jüdischen Organisationen zugeflossen sind, nicht immer an die richtigen Adressaten gelangten, zur Beweislage etwa für diejenigen Holocaust-Überlebenden, die nun ihrerseits die Claims Conference verklagen, trägt „The Holocaust Industry“ nichts bei. Dazu sind die Verdachtsmomente – unter der Überschrift „Der Weg des Geldes“ dem Rezensionsexemplar als Extra-Blatt beigelegt – zu schwach. Letztlich ist Finkelsteins Buch ein der Entschädigungsfrage ganz und gar unangemessenes Pamphlet, das dem Ressentiment und nicht der Aufklärung zuarbeitet. So dumm sich Paul Spiegel, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, verhält, wenn er auf Unterstellungen mit Unterstellungen antwortet und sagt, das Buch liefere den Beweis, „dass Einzelne immer wieder versuchen, mit dem Leid der Opfer ein Geschäft zu machen“ – die von Finkelstein Angegriffenen werden mit der Entkräftung seiner Vorwürfe wenig Mühe haben.

Kriegsgewinnlerei

Der Autor, dessen Eltern das Warschauer Ghetto und die Konzentrationslager der Nazis überlebten, zeiht die jüdischen Organisationen der Kriegsgewinnlerei – und zwar in zweierlei Hinsicht. Denn, so seine These, es war der Sechstagekrieg 1967, der die Wende in der amerikanischen Außenpolitik brachte und damit das Engagement der amerikanischen jüdischen Elite für Israel belohnte und die Aufarbeitung der Shoah ermöglichte, bis zu dem Punkt, an dem der Holocaust zu einer Art amerikanischer Zivilreligion wurde, mit einem festen Platz in den amerikanischen Schul- und Universitätscurricula, mit Lehrstühlen, Forschungsprogrammen, eigenen Museen samt Volksbildungsmaßnahmen. Finkelstein hat diese These von Peter Novick, einem jüdischen Historiker an der Universität von Chicago, dessen Buch „The Holocaust in American Life“ Finkelstein für die London Review of Books rezensierte. Novick argumentiert, der Sechstagekrieg habe der jüdischen Gemeinschaft in den Vereinigten Staaten die fragile Situation des Staates Israel deutlich gemacht, was es ihr notwendig erscheinen ließ, erneut auf das jüdische Leiden im Zweiten Weltkrieg aufmerksam zu machen.

Finkelstein modifiziert dieses Argument: Nicht die Schwäche Israels, sondern seine Stärke in der militärischen Auseinandersetzung habe die Außenpolitik der Vereinigten Staaten bewogen, nicht länger auf die arabischen Länder, sondern eben auf Israel als den nützlicheren Bündnispartner zu setzen. Für die amerikanischen Juden bedeutete dies, statt zweier Loyalitäten geziehen zu werden, nun durch ihre Unterstützung Israels besonders patriotische Amerikaner zu sein. Diese These ist durchaus plausibel, denkt man an die McCarthy-Ära, deren Antikommunismus auch den Zionismus in Verdacht hatte und deutlich antisemitische Züge trug.

Allerdings, mit ihrer Aufnahme in die Mitte der amerikanischen Gesellschaft, so Finkelstein, wusste die proisraelische jüdische Elite der USA den Holocaust geschickt ihren Zwecken dienlich zu machen. Dazu machte sie vor allem die These von der Unvergleichlichkeit der Shoah stark und zuletzt auch noch, so Finkelsteins Vorwurf an Daniel Goldhagen, die Unterstellung eines ewigen irrationalen Hasses aller Nichtjuden auf die Juden. Weil Finkelstein in der Singularitätsthese das größte Hindernis für einen angemessenen Umgang mit dem Gedenken an die Opfer der Konzentrations- und Vernichtungslager sowie der Mordaktionen von Polizei und Armee sieht, zeigt er hier seine polemischsten Seiten. Freilich scheint hier die Polemik auch am billigsten zu haben zu sein. Wenn Norman G. Finkelsteins Lieblingsfeind Elie Wiesel behauptet, der Vergleich des Holocausts mit dem Leiden anderer Völker oder Minoritäten sei der vollständige Verrat an der jüdischen Geschichte, dann weiß eigentlich jeglicher Adressat, dass man sich hier in einer Kirche und eben nicht in einem historischen Diskurs befindet. Um das deutlich zu machen, brauchte Finkelstein eigentlich nicht auf die absurden phänomenologischen Unvergleichlichkeitsgleichungen von Steven T. Katz einzugehen, die Katz als phänomenologisch in einem „non-Husserlian, non Shutzean, non-Schelerian, non-Heideggerian, non-Merleau-Pontyan“-Sinn versteht.

Okay, darüber kann man schon lachen, und Finkelstein hat eben eine fürchterliche Wut. Eine Wut, die daher rührt, dass er die von Nazi-Terror tatsächlich Betroffenen wie etwa seine Eltern, aber auch die vielen nichtjüdischen Opfer nicht gewürdigt, sondern als unfreiwillige Parteigänger des Staates Israel funktionalisiert sieht. „Natürlich muss man historische Unterscheidungen machen“, sagt Finkelstein. „Aber einen moralischen Unterschied zwischen ‚unserem‘ und ‚deren‘ Leiden zu machen, ist selbst eine moralische Travestie.“ Ob Finkelsteins Polemik allerdings hilfreich ist, deutlich zu machen, dass die Infragestellung der Singularitätsthese keinesfalls die Leugnung des Holocaust bedeutet, steht zu bezweifeln. Diejenigen Leute, Historiker, Politiker, Journalisten und eben Betroffene des Holocaust, die in der Öffentlichkeit stehen und die These von der Vergleichbarkeit vertreten, können über Finkelsteins Beitrag jedenfalls nicht froh sein.

Norman G. Finkelstein: „The Holocaust Industry: Reflections on the Exploitation of Jewish Suffering“. Verso Books, London 2000, 16 £