Ökonomie der Vernetzung

In seinem neuen Buch beschreibt der Stadtsoziologe Mike Davis, wie die Latino-Minderheit die Metropolen der USA transformiert. Ihr Verhalten trägt Modellcharakter in der globalisierten Welt

von BRIGITTE WERNEBURG

Die US-amerikanische Großstadt der nahen Zukunft wird eine Latino-Metropole sein, und als solche wird sie stolz ein Gewerkschaftsabzeichen tragen. Mit dieser für sein Land revolutionären Vorhersage beschließt Mike Davis sein neuestes Buch „Magical Urbanism“.

Mike Davis, wissenschaftlicher Autodidakt und Außenseiter, ist als Stadtsoziologe weithin bekannt. Zuletzt zog er den geballten Neid seiner amerikanischen Akademiker- und Journalistenkollegen auf sich, weil er, der alte Marxist, nicht nur im Mittelpunkt medialer Aufmerksamkeit steht, sondern auch noch Geld scheffelt wie Heu. Nach seiner inzwischen zum Klassiker avancierten Los-Angeles-Studie „City of Quartz“ führte er mit seinem letzten Buch „Ökologie der Angst“ die amerikanische Bestsellerliste der Sachbücher an, und ein MacArthur-Stipendium brachte ihm weitere 800.000 Mark. Das blieb nicht unbemerkt, und so wurde zunächst von Seiten der Los Angeles Times versucht, die Stichhaltigkeit von Davis’ Recherchen in Zweifel zu ziehen. Trotz großer Aufregung und einer ebenso großen Debatte in den führenden Zeitungen und Zeitschriften des Landes war am Ende an diesen Vorwürfen wenig dran. Das gebildete Amerika wird also sein neuestes Buch, das sich den Recherchen seines MacArthur-Stipendiums verdankt, doch wieder mit dem angemessenen Respekt zur Kenntnis nehmen müssen.

Der schmale Band von nur 170 Seiten ist vielleicht sein aufregendstes Buch. Denn anders als in seinen vorangegangenen Büchern lässt „Magical Urbanism“ Davis’ bekannten apokalyptischen Ton vermissen und schaut aus einer linken Perspektive nachgerade erwartungsfroh in die nahe US-amerikanische Zukunft. Mag sein, der neue Ton rührt daher, dass der Autor in diesem Fall das Desaster nicht erst beschwören und Kalifornien nicht auf den Rock’n’Roll aus dem Sankt-Andreas-Graben warten muss, denn die Katastrophe ist schon passiert.

Staat der kleine Leute

So jedenfalls stellt sich das Szenario für die weiße, nichthispanische Bevölkerung des Sonnenstaates dar, die im Jahr 2000, erstmals seit dem Goldrausch, wieder zur Minderheit geworden ist. Der schwarze und der asiatische zusammen mit dem hispanischen Bevölkerungsanteil liegt nun über 50 Prozent (wobei die Latinobevölkerung im nationalen Rahmen die Afroamerikaner als größte US-amerikanische Minderheit schon überrundet hat). Das heißt aber auch, dass Kalifornien – eine der reichsten Nationalökonomien der Welt – ein Staat der kleinen Leute und Geringverdienenden geworden ist. Die Wohngebiete der wohlhabenden weißen, angelsächsischen Minderheit legen sich etwa in Los Angeles wie ein goldener Gürtel entlang den Stränden und den umgebenen Hügeln um die arme, hispanische Metropole und Innenstadt, wo beispielsweise die Central Avenue, die frühere Hauptstraße des schwarzen Los Angeles, nun zu 75 Prozent in hispanischer Hand ist.

Dank der Latino-Einwanderung mit ihrer starken Geburtenrate kommt es hier nun zu einer Renaissance urbanen Lebens. Anders als die restlichen Einwohner bevölkern die hispanischen Immigranten ungeniert die Spielplätze, Parks, Büchereien und „anderen in den Vereinigten Staaten vom Aussterben bedrohten öffentlichen Plätze“, wie Mike Davis es ausdrückt. Pacific Avenue rund um Huntington Park erstrahlt in frisch renoviertem Art-déco-Glanz, und die Bungalows südlich und südöstlich von Downtown Los Angeles prunken in den Sorbetfarben von verde limón, rosa mexicano, azul añil und morado. Nicht, dass dieser Wiederaufbau längst abgeschriebener städtischer Bezirke den Neuankömmlingen leicht gemacht würde. Myriaden von Gesetzen und Regulierungen behindern den Hausbesitzer und rücken seinen Elan in den Bereich der Illegalität. Doch in naher Zukunft könnten solche Gesetze geändert werden. Denn die hispanische Bevölkerung ist in den Worten von Mike Davis „der schlafende Drache der US-Politik“. Noch ist die Mehrzahl der Immigranten nicht wahlberechtigt. Doch 1997 beantragten 255.000 mexikanische Immigranten die Staatsbürgerschaft und brachen damit den bislang gültigen Naturalisierungsrekord einer nationalen Gruppe, den die Italiener 1944 mit 106.626 Anträgen aufgestellt hatten.

Bei der letzten Präsidentschaftswahl 1996, bei der die Stimmabgabe um acht Prozent fiel, legten die Latinostimmen um 16 Prozent und die Stimmregistrierung um 28 Prozent zu. Auch wenn die Latinos nur sieben Prozent der aktiven Wähler bilden, so sind ihre Stimmen doch in den vier wahlstrategisch wichtigsten Staaten konzentriert, nämlich in Kalifornien und in Texas, wo vor allem Mexikaner leben, in Florida, wo in Miami eine wohlhabende kubanische Oberschicht existiert, und in New York, wo neben den amerikanischen Staatsbürgern aus Puerto Rico weitere Immigranten aus der Karibik, etwa der Dominikanischen Republik, konzentriert sind. Kein Wunder jedenfalls, dass es George Bush Jr. im Präsidentschaftswahlkampf als großen Vorteil gegenüber Al Gore empfindet, fließend Spanisch zu sprechen.

Dass der schlafende Drache aufwacht, ist nötig, denn Diskriminierung und Rassismus machen der Latinobevölkerung durchaus zu schaffen. Als ihr erster Nachteil erweist sich, dass sie sich fast ausschließlich in den nordamerikanischen Millionenstädten niederlässt, denen zuletzt immer mehr Bundesmittel entzogen wurden. In New York fiel ihr Anteil am städtischen Budget zwischen 1977 und 1985 von 19 auf 9 Prozent, in Los Angeles von 18 auf zwei und in Chicago von 27 auf 15 Prozent. In der Folge besuchen die Immigrantenkinder die am schlechtesten ausgestatteten Schulen im Land. Große Kampagnen des Silicon-Valley-Millionärs Ron Unz, die gegen bilingualen Unterricht Stimmung machten, führten dazu, dass im Juni 1998 die Proposition 227 kalifornisches Gesetz wurde. Sie sieht vor, dass Englisch alleinige Unterrichtssprache ist – es sei denn, die Eltern plädieren förmlich für zweisprachigen Unterricht. Man kann sich leicht vorstellen, dass Immigranten, womöglich noch illegale Immigranten, deren Kinder seit der 1994 Gesetz gewordenen Proposition 187 gar kein Recht haben, öffentliche Schulen zu besuchen, sich kaum gegen dieses verdeckte „English Only“-Gesetz zur Wehr setzen. Die unter allen Minderheiten höchste Rate von Jugendlichen ohne Schulabschluss ist es, die dem Fortkommen der Latinos in Nordamerika am meisten schadet.

Dennoch erweisen sich die mexikanischen und zentralamerikanischen Einwanderer als eine robuste Migrantengruppe, deren Verhalten Modellcharakter in der globalisierten Welt gewinnt und eine neue transnationale Urbanität in den Vereinigten Staaten bedingt. Das von den Migranten in ihre Heimat transferierte Geld übersteigt in Zentralamerika und Mexiko, wo 1990 zwei Prozent der Bevölkerung 78 Prozent des nationalen Einkommens bezogen, heute alle anderen Devisenquellen. Dörfer und Städte sind voll in die Ökonomie der Migrantensiedlungen in den USA integriert.

„Transnational Suburbs“

Sie funktonieren als „Transnational Suburbs“ von New York, Los Angeles, Chicago oder Miami. Arm in den Vereinigten Staaten, doch wohlhabend jenseits der Grenze, entwickeln sich transnationale Familien, in denen die arbeitsfähigen Mitglieder emigrieren, während die abhängigen Familienmitglieder zu Hause bleiben. Anders als früher bleiben die Kontakte jedoch eng. Das Verdienst kommt den neuen Kommunikationsmitteln zu, die üblicherweise mit der wirtschaftlichen Globalisierung identifiziert werden, wie Mobiltelefone, Internet und billige Flüge. Es bilden sich virtuelle Dorfgemeinschaften, in denen bei einem wöchentlichen Rundruf zwischen Brooklyn und Mexiko die wichtigsten Dorfprojekte und -probleme debattiert und gemeinsam entschieden werden; wie im Falle von Ticuani, wo dank des Brooklyner Auslegers seit 1970 der Bau zweier neuer Schulen, die Renovierung der Kirche und der städtischen Infrastruktur erfolgreich abgeschlossen wurden. Man kann davon ausgehen, dass sich Einwanderer aus Irland oder Italien früher sicher ähnlich verhalten hätten, was aber die Tatsache verhinderte, dass sie nicht übers Wochenende nach Hause fliegen oder in ständigem Telefonkontakt bleiben konnten. Die Bedeutung der neuen Vernetzung lässt sich etwa am Fall der Dominikanischen Republik ermessen, wo ein waschechter New Yorker zum Präsidenten gewählt wurde. Leonel Fernández Reyna wuchs in der Upper West Side auf, besitzt immer noch seine Green Card und will, wie er sagt, nach dem Ende seiner Präsidentschaft in seinem Heimatland wieder in seine Heimatstadt NYC zurückkehren.

Der Rückhalt in den Dörfern jenseits der nordamerikanischen Grenze führte 1992 auch dazu, dass die mexikanischen Verputzarbeiter in einem der beiden wichtigsten Arbeitskämpfe der letzten zehn Jahre in Kalifornien erfolgreich blieben. Es ist überhaupt auffällig, wie stark die Latinos in den Gewerkschaften vertreten sind und welche zunehmend wichtige Rolle sie dort spielen. Als etwa der japanische Kajima-Baukonzern, der in Los Angeles das New Otani Hotel betreibt, versuchte, seine gewerkschaftlich organisierten hispanischen Hotelangestellten los zu werden, entdeckten die Gewerkschaftsmitglieder 1994, dass es chinesische Überlebende eines von Kajima im Zweiten Weltkrieg betriebenen Konzentrationslagers gab, die wegen Entschädigungszahlungen gegen die Firma klagten. Die düstere Vorgeschichte von Kajima wurde in Los Angeles sofort publik gemacht, und eine Delegation der New-Otani-Angestellten flog nach Tokio, wo sie sich mit den chinesischen Sklavenarbeitern und sympathisierenden japanischen Gewerkschaftlern trafen, um das weitere Vorgehen zu koordinieren. Inzwischen deckten die Gewerkschaftler auf, dass Kajima auch beim letzten großen Skandal in der Stadt der Engel Drahtzieher und Profiteur war: beim Bau einer dringend benötigten Schule, dem Belmont Learning Center, das mit Baukosten von 400 Millionen Mark als die teuerste Schule der USA gilt. Die Schule wurde auf dem vergifteten Grund verlassener Ölquellen gebaut, aus denen hochexplosives Methangas ausströmt, weshalb die Baustelle schließlich aufgegeben werden musste.

Auch der größte private Arbeitgeber in Los Angeles, die University of Southern California, die ihrem langjährigen Kantinen- und Putzpersonal keine Arbeitsplatzgarantie geben wollte, musste sich erst kürzlich den Gewerkschaftsforderungen beugen. Dabei entwickelte die Gewerkschaft mit Hilfe der Studenten ein ganz neues Repertoire von Protestformen. Guerillatheater und Foto-Novelas über den Fortgang des Kampfes entstanden, und Mahnwachen vor den Hauptquartieren der Firmen, die die USC finanzieren, wurden bis nach Japan organisiert. Der Zuwachs an hispanischen Mitgliedern macht die Gewerkschaften offensichtlich wieder schlagkräftig, und die neue Militanz der Verbände wird die Politik in Kalifornien in der nächsten Dekade prägen. So glaubt Mike Davis, dass eine „alternative politische Ökonomie der Arbeiterklasse“ der kommenden Latino-Metropole ihre Gestalt geben wird.

Mike Davis: „Magical Urbanism. Latinos Reinvent the US-City“. Verso Books London 2000, 14 £