Korsischer Dissident getötet

Jean-Michel Rossi kehrte der bewaffneten Bewegung der Nationalisten 1998 den Rücken. Seither warnte er vor „Entartungen“ in den Reihen der Militanten

PARIS taz ■ Jean-Michel Rossi konnte seinen Mördern vermutlich ins Auge schauen, bevor sie ihn gestern Morgen um 8 Uhr 30 in seiner Stammkneipe „La Piscine“ im korsischen Touristenort Île Rossi ermordeten. Denn entgegen den örtlichen Usancen kamen die fünf Männer unmaskiert. Mit ihren rund 50 Kugeln aus Maschinenpistolen erschossen sie auch Rossis Leibwächter Jean-Claude Fratacci und verletzten den Türsteher des Lokals.

Anschließend flüchteten sie – „unerkannt“, wie es in solchen Fällen auf der Insel heißt, wo bis heute ein Gesetz des Schweigens gilt und wo die meisten Gewaltverbrechen nie zur Aufklärung kommen. Die Polizei baute Straßensperren.

Der Mord richtete sich gegen eine der früher führenden Figuren der bewaffneten Nationalistenbewegung. In den 80er- und 90er-Jahren gehörte Rossi, der von seinen 44 Lebensjahren 9 hinter Gittern verbracht hat, zum innersten Kreis des FLNC-Canal historique. Doch als seine alten Kumpane am 6. Februar 1998 den damaligen Präfekten auf der Insel, Claude Erignac, ermordeten, kehrte er der Bewegung zusammen mit einigen anderen reumütigen nationalistischen Ultras den Rücken. Seither haben Rossi und die anderen Aussteiger nicht nur Abstand von der korsischen Unabhängigkeit genommen, sondern warnen auch unablässig vor den „Entartungen“ der nationalistischen Bewegung: vor „bewaffneten Banden“, vor „kleinen und großen Kriegsherren“, vor „mafiosen Strukturen“, vor Waffen- und Drogenhandel und rechtsextremistischen Ideen, die sich im inneren Kreise der Nationalisten ausbreiteten.

Die alten Kumpane nahmen das übel. Sie erklärten ein „Einreiseverbot nach Korsika“ für den „Verräter“ Rossi und sorgten dafür, dass ein vor zwei Monaten erschienenes Interviewbuch mit seinen Enthüllungen auf der Insel kaum zu finden ist. In „Pour solde de tout compte“ (etwa: Die Abrechnung) packten Rossi und der ebenfalls ausgestiegene ehemalige Nationalistenchef François Santoni Details über die „ethnizistische und zutiefst konservative Vision“ des gegenwärtigen Nationalistenchefs Jean-Guy Talamoni aus. Sie sprachen aber auch über Geheimverhandlungen, die sie als Nationalistenchefs mit mehreren französischen Innenministern geführt haben wollen.

Auf der 250.000-Einwohner-Insel erschien das für den Mord gewählte Datum als symbolisch. Wenige Stunden zuvor war am Sonntag die „Sommeruniversität“ von Corte zu Ende gegangen, bei der sich alljährlich die nationalistischen Ultras treffen, um Ziele und Strategien zu diskutieren. Von Corte gingen schon viele nationalistische Signale aus: Dort beschwören sie den „Kampf gegen den französischen Staat“ und dort rühmten sich einst maskierte Männer vor applaudierendem Publikum, den „Verräter“ Robert Sozzi ermordet zu haben, der die mafiosen Praktiken seiner einstigen Kampfgefährten kritisiert hatte.

In diesem Jahr war die Sommeruniversität von einem anderen „Triumph“ der Nationalisten geprägt: dem mit dem französischen Premierminister Lionel Jospin ausgehandelten Zwei-Stufen-Plan für eine größere Autonomie. Die von Paris als Voraussetzung für die Umsetzung des Plans verlangte Befriedung der Insel interpretierte Nationalistenchef Talamoni in Corte auf eigene Art: Er verlangt die Amnestie für alle „Patriottu“ und droht mit einer Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes, wenn Paris nicht spurt. DOROTHEA HAHN