„Ein radikales Bekenntnis zur Einwanderung“

Solange Migration in Deutschland nicht akzeptiert ist, wird auch die rassistische Gewalt nicht aufhören, meint Daniel Cohn-Bendit

 taz: Seit zehn Jahren gibt es in Deutschland ein erschreckend hohes Niveau an rassistischer Straßengewalt, nicht so in Frankreich. Was läuft bei unseren Nachbarn anders?

Daniel Cohn-Bendit: Es besteht Einigkeit, dass Frankreich ein Einwanderungsland ist, dass es Franzosen gibt, die dunkelhäutig, die blond oder rothaarig sind. Die französische Gesellschaft hat längst akzeptiert, dass zum Beispiel schwarze Sänger, Lehrer oder Intellektuelle Teil der Nation sind. Das steht außer Frage, selbst wenn eine politisch unangenehme Debatte mit stark rassistischen Zügen über das Ausmaß der Einwanderung geführt wird.

Warum geht das in Deutschland trotz aller Appelle zur Toleranz nicht?

Es wird sich nur dann grundlegend etwas ändern, wenn die Tatsache der Einwanderung in die Mentalität des deutschen Volkes integriert ist.

Im Augenblicklich läuft die Diskussion in eine andere Richtung. Stichwort: Green Card . . .

. . . das war eine fatale Debatte, völlig meschugge . . .

. . . wobei vor allem der Nützlichkeitsaspekt von Einwanderern betont wurde.

Das sind Chiffren, die in einer Gesellschaft, die der Einwanderung und andersfarbigen Menschen eher ablehnend gegenübersteht, schlimme Auswirkungen haben. Sartre hat gesagt: Der Antisemitismus ist erst dann verschwunden, wenn man Juden als das akzepiert, was sie sind, nämlich Gangster, Intellektuelle, Arme und Reiche, Krankenschwestern und Nutten. Wenn man aber sagt, wir brauchen Juden, weil sie alle Nobelpreisträger sind, ist das fatal.

So ist das auch mit den Einwanderern. Wenn wir Einwanderer wollen, dann muss man sie mit all ihren positiven und negativen Seiten beschreiben, akzeptieren und darüber reden.

Ihrer Partei fehlt dazu der Mut.

Bei den Grünen und den antirassistischen Gruppen hat man Angst, den Gegnern andernfalls Argumente und Waffen an die Hand zu geben. Nichts ist schlimmer als die Verschleierung. Dies gilt allerdings nur, wenn gleichzeitig die Mitte der Gesellschaft ein radikales Bekenntnis zu Gunsten der Einwanderung entwickelt.

Wie müsste die derzeit aussehen?

Herr Schröder, Frau Merkel, Herr Fischer, Herr Gysi, Frau Pau, Herr Westerwelle und Herr Stoiber müssen gemeinsam Kundgebungen in Hoyerswerda, in NRW und in Bayern machen und nur ein Konzert abliefern: Deutschland hat Einwanderung, Deutschland braucht Einwanderung, Deutschland wird Einwanderung haben. Wir wollen, dass die deutsche Bevölkerung in Zukunft bunt gemischt ist. Nur wer das so radikal vertritt, wird Mentalitäten verändern.

Genau das passiert augenblicklich nicht. Stattdessen setzen alle, auch die Grünen, verstärkt auf Repression.

Wenn es Übergriffe gibt, soll man potenziellen Gewalttätern Angst machen. Wir haben die Gestze, die es verbieten, Menschen zu bedrohen, zu verletzen und zu töten. Nur sollten wir unsere Geschichte nicht vergessen. Je größer in den 70er-Jahren die Repression gegen die Mescaleros war, die ihre klammheimliche Freude über Attentaten der RAF ausdrückten, desto mehr hat sich die Szene solidarisiert. Der Höhepunkt wäre nun, wenn Rot-Grün den Radikalenerlass für Rechtsradikale forderte.

Zivilgesellschaft von oben, kann das funktionieren?

Zivilgesellschaft muss es von unten und von oben geben. Ich bin durchaus dafür, dass die Regierenden Diskussionen initiieren und Maßnahmen vorschlagen. Aber sie müssen auch in der Lage sein, existierende Initiativen zu integrieren.

Damit hat die Regierung Schwierigkeiten, wie sich kürzlich an der Nichtbeachtung von NGOs an Schilys Bündnis für Demokratie und Toleranz zeigte. Offensichtlich befürchtet die Regierung, die eigene Opposition zu fördern – zum Beispiel die autonome Antifa.

Da haben wir, Leute wie ich und die taz, besondere Verantwortung. Wir müssen den jeweiligen Kreisen sagen, dass sie über ihre Schatten springen müssen. Die Autonomen müssen verstehen, dass ihre Form der Organisation des Widerstands eine mögliche ist, aber bislang genauso wenig erfolgreich wie die verordnete Zivilgesellschaft von oben. Jeder hat sich in den Dienst der Bedrohten zu stellen und ein Bündnis für die anderen und nicht für sich zu bilden.

Ab Herbst tagt die von Otto Schily einberufene Einwanderungskommission. Was könnte diese zur Verbesserung der Situation beitragen?

Diese Kommission muss endlich klarmachen, dass Einwanderung und Asyl zwei paar Schuhe sind. Einwanderung und Asyl wird es künftig geben. Aber Einwanderung und Asyl wird es in Zukunft ganz anders geben, und sie werden ganz anders funktionieren, als das bislang der Fall ist. Bislang wurden ideologische Schlachten geschlagen.

Das ist eine Kritik, die sich wieder einmal gegen Ihre Partei richtet . . .

Sie richtet sich gegen SPD, CDU, FDP, PDS, Grüne und gegen die antirassistischen Gruppen. Ich habe es satt, dass für die einen die Asylbewerber die guten Menschen sind, weil sie Opfer sind. Für die anderen sind Einwanderer nur gut, wenn sie nützlich sind. Beide Sichtweisen gehen mir auf die Nerven.

Im Punkt Asyl wollen Sie eine europäische Lösung, die Abschied nimmt, von der deutschen Asylregelung?

Wer europäische Regelung sagt, kann das Asyl nicht aus dem Nationalsozialismus interpretieren. Eine europäische Asylregelung wird sich radikal unterscheiden von der deutschen Asylregelung nach 45. Ebenso brauchen wir eine europäische Einwanderungsregelung. Auch die wird sich nicht in der deutschen Debatte erschöpfen können.

INTERVIEW: EBERHARD SEIDEL