Wozu ein Phallus alles gut ist

Nur der Vesuv war härter: In der Antike war Sex auch ein Spektakel, dargestellt mit ins Absurde gesteigerten Figuren. Das zeigt das wieder eröffnete Geheimkabinett obszöner Objekte in Neapel

von FRANK HELBERT

In Arztzimmern hängen oft Bilder aus fernen Welten und sollen exotische Wärme ins sachliche Ambiente bringen. Zur Zeit der Antike war das im Haus des Medicus von Pompeji ähnlich. Sein Wandbild zeigt eine pompejianische Vorstellung von Afrika: Die Menschen dort waren alle nackt – ein mit Pygmäen bevölkerter Kontinent, deren Männer meist mit einem überdimensionalen Penis ausgestattet waren. Auf dem Bild des Medicus von Pompeji hat ein Pärchen bei einem Fest im Freien Sex unter einem Schatten spendenden Zeltdach, während dazu Flöte gespielt, getrunken, getanzt und beobachtet wird. Wie die Abbildungen der klassischen römischen Bankette sollte das Fresko die Betrachter stimulieren, sein nach Afrika verlagerter Schauplatz mit den Pygmäen als Kontrapunkt zum klassischen Körperideal aber ironisierte auch die gewollte Erotisierung.

Es ist das spektakulärste und vielleicht wichtigste Exponat im lange Zeit geheimen Kabinett erotischer Kunst. Sex als Spektakel, für die Pompejianer war das nichts Ungewöhnliches, für die Forschung schon. Als Mitte des 18. Jahrhunderts mit den Funden von Pompeji und Herkulaneum klar wurde, dass diese damals mittelgroßen Städte aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen eine Sonderrolle spielten und die Vorstellung der Forschung von Ethik und Moral im Römischen Imperium sprengten, war das der erste Grund, um die Fundstücke sexuellen Gehalts oder sexueller Gestalt wegzuschließen. Zwar wurde die „Nilszene mit Sexspektakel von Pygmäen“ 1894 vom Nationalmuseum Neapels der Wissenschaft zuliebe angekauft, doch vorher lag jahrzehntelang ein Keuschheitsgürtel um die erregenden Objekte, und der Schlüssel dazu wurde auch danach sorgsam gehütet. Geschmiedet hatte ihn 1819 der Erbprinz und baldige König von Neapel, Francesco I., der offenbar nicht genau wusste, was ihn, seine Frau und seine Tochter beim Besuch des Priapismus-Zimmers im Museum erwarten würde. Schließlich war Priapos der Gott aus dem Orient, der aus einem Feigenbaum entstanden war und mit seinem übergroßen Penis die Obsträuber in die Flucht schlug. Die Empfehlung des Erbprinzen nach dem Besuch jedenfalls war es, „alle obszönen Objekte, aus welchem Material sie auch seien, in einen Raum einzuschließen, zu dem nur Personen reifen Alters und moralischen Bewusstseins Zutritt hätten“.

So blieb es über Jahrzehnte, und nur die Schärfe des Verschlusses variierte. Mal wurde das Zimmer komplett zugemauert, mal war ein Sittlichkeitszeugnis nötig, um es einsehen zu können, dann reichte der Nachweis des wissenschaftlichen Interesses. Später wurden die erotischen Funde aus Pompeji zu Stellvertretern einer liberaleren Politik: Sowohl der Freiheitskämpfer Garibaldi, dem es schon nicht gefallen hatte, dass die antiken Helden entmannt im Museum standen, und denen er deswegen ihre Glieder wieder ankleben ließ, als auch die 48er-Revolution zwölf Jahre vorher schrieben die Wiedereröffnung des Geheimkabinetts auf ihre Fahnen.

Die seriöse Umsetzung dieses Vorhabens gelang aber erst jetzt, im Heiligen Jahr 2000. Nicht um den Papst mit Pornos aus Pompeji zu provozieren, sondern als Teil der beeindruckenden, langsamen Sanierung im Nationalmuseum. Dort ist die neue Abteilung mit ihren mehr als 250 Objekten in vier Themenbereiche gegliedert: erotisch-mythologische Malerei, Gartenschmuck, Bankette und Prostitution, Sexualität als Schutz. Der Satyr, Waldgott und Wüstling, versucht auf Wandbildern erstaunlich häufig, sich in eindeutiger Absicht Hermaphroditen und Nymphen zu nähern; und sein Kollege Pan hat es geschafft, sich nicht nur im lustseligen Blick zu vereinigen. Mit einer rücklings liegenden Ziege auf den Knien kopulierend, schmückte er als kleine Marmorplastik den Garten der Villa dei Papiri in Herkulaneum.

Zwei Jahre lang wurden die Fresken und Mosaiken mit erotischen Szenen, die Statuen, Marmorminiaturen und Bronzen restauriert. Schon am ersten Wochenende nach der Eröffnung standen die Besucher vor der Abteilung Schlange, und besonders langsam ging es in der Ecke voran, die nur dem Phallus gewidmet ist – das Geschlechtsorgan als Fetisch oder als Schutz gegen den bösen Blick und gegen Krankheiten. Damit die Lust nie zu stark würde und sich nicht gegen den Lüstling selbst richtete, konnte etwa eine Art Windspiel aufgehängt werden: ein Gladiator aus Bronze, an dessen Füßen, Hoden und Phallus Glocken zum Vertreiben der geilen Dämonen befestigt waren. Der Phallus wird an seinem Ende zum Pantherkopf, gegen den der Krieger sich mit einem Messer wehrt.

An einigen Hauswänden sollten Phallusabbildungen den Bewohnern, meist Bäckern, Wachstum und Fruchtbarkeit bringen und sie vor dem Neid der anderen schützen. Ein nie erforschter Hintergrund der auch in Neapel auf Häuserwände hingeschmierten Schwänzegraffiti aus Tradition! In der Antike war aber nicht die Wut über einen sexuellen Status quo der Auslöser solcher Zeichengebung, nicht die spontane Sublimation, sondern das ästhetische Bewusstsein für die kreative Umformung eines faszinierenden Feelings: Als „Fascinum“ bezeichneten die Römer den Penis – eine substantivi- sche Ausdehnung von „fas“, will sagen „günstig“ oder „wohlgesinnt“.

So sollte auch die Laune der Götter sein, falls ihre Gedanken jenes Haus in Pompeji berührten, dessen Bewohner zum Schutz ein Phallusrelief an die Wand gemeißelt hatte, darunter die Worte „hic habitat felicitas“ – hier wohnt das Glück. Doch der Vesuv war mächtiger als diese Beschwörung.