Hanna, die im Kino leben will

Kleine Diebin und Möchtegernnutte: In raffinierten Schnittchoreographien darf sich die Heldin in Léa Pools „Emporte-moi“ tanzend und rauchend mit dem Godard-Star Anna Karina identifizieren

von PHILIPP BÜHLER

Es gibt Menschen, die können ein Kino nicht einfach verlassen. So wie Hanna. Sie drückt sich aus dem Kino. Noch während sie, die Hände tief in den Taschen ihres Regenmantels vergraben, den Schritt ins Tageslicht tut, drängeln sich dutzende andere an ihr vorbei. So sieht jemand aus, der hier allein, vermutlich heimlich herkommt. Hanna will auch gar nicht raus, sie will hier leben, im Kino. Sie ist dreizehn, und vielleicht erinnert sich der eine oder andere an diese Zeit im Leben, als man sich noch in die dunkle Magie dieses Ortes versenken konnte. (In Berlin gab es ja früher das Kino in der Schlüterstraße, wo man sich durch den geschickten Gebrauch toter Winkel ein Double-Feature erschleichen konnte. –Hoffentlich musste es nicht deswegen zumachen.)

Hanna lebt im Montreal des Jahres 1963. Das Jahr, in dem sie die Filme Jean-Luc Godards und seiner Heldin Nana S., der schnippisch-selbstbewussten Prostituierten in „Vivre sa vie“ kennen lernt. Von Anna Karinas Glamour ist sie fasziniert. Ihre schlauen Sätze lernt sie auswendig: „Die Dinge sind, wie sie sind. Das Leben ist das Leben.“ Dass sie sich mit diesem Regelapparat im eigenen Leben zurechtfinden muss, lernt sie erst nach und nach. Zu deprimierend, cinematographisch wertlos ist ihr alles außerhalb des Kinos. Dabei birgt nicht nur ihr so verletzliches wie offenes Wesen, sondern auch ihr fragiles Elternhaus Stoff für mehr als einen Film.

Der Vater (das Kusturica-Faktotum Miki Manojlovic), ein erfolgloser jüdischer Schriftsteller, staatenlos und innerlich noch immer auf der Flucht, verdient ein paar Kröten beim Schach. Die Mutter, bei aller Liebe nervlich am Ende, bringt die Familie mit ihren Nähereien kaum über die Runden. Und dann ist da noch ihr geliebter Bruder Paul, den sie beim kameradschaftlichen Mundraub begleitet.

Durch den Flirt mit Anna Karina wird das sensible Mädchenporträt zum Kunstwerk. In raffinierten Schnittchoreographien darf Hanna ihr Idol (tanzend) imitieren und sich mit ihm (rauchend) identifizieren. Im realen Leben sucht sie die Nähe von Menschen, die Nana ähneln: ihre Lehrerin, die eine ganz grandiose Raucherin ist, und die gleichaltrige Laura. Sie ist die Fremde, der man vielleicht nur im Regen vor den Stufen eines Kinos begegnen kann, dazu eine exklusiv filmische Figur, die kaum einen Ton sagt und durch ihre Sinnlichkeit Geheimnis verspricht.

Doch in der Schule des Begehrens absolviert Hanna gerade mal die erste Klasse. Was sie für die erste Erkundung von Liebe hält, ist die Suche nach weiblicher Identität. Begleitet und verfremdet wird diese Suche durch die träumerische Imaginierung körperlicher Liebesbezeugungen. So entsteht ein vielschichtiges Bild junger Persönlichkeit, und es ist schnell vergessen, dass alles sehr exemplarisch mit der ersten Blutung begonnen hat.

Schon frühere Filme, wie „Die Frau im Hotel“ und „Anne Trister“, hat die 1975 aus der Schweiz nach Kanada übergesiedelte Regisseurin Léa Pool solchen Themen gewidmet. Geschichten vom Erwachsen-Werden, Frau-Werden. Das große Plus von „Emporte-moi“ ist seine herbe Leichtigkeit, die ganz auf die widerständig-gewitzte Darstellung von Karine Vanasse zugeschnitten ist und nie ins Klischee überschwappt. Im Gegenteil: Wo sich ein anderer Film in seinen sexual politics verrennen könnte, erzählt Pool die Geschichten, die früher eben nicht Godard, sondern Truffaut erzählt hat: die allmonatliche Versetzung der väterlichen Schreibmaschine, die demütigende Reklamation beim Bäcker, weil das Brot innen hohl ist. So bleibt Hanna, kleine Diebin und Möchtegernnutte, fest am Tanzboden des Lebens, wo kleine Jungs mit ihren dämlichen Verrenkungen noch eine Weile auf sie warten dürfen. Sie tanzt mit Anna Karina, und alle anderen dürfen ihr dabei zugucken. Ob es heute einen Film geben könnte, mit dem sie derart in Beziehung treten könnte, darf bezweifelt werden. Aber für uns könnte „Emporte-moi“ dieser Film sein.

„Emporte-moi“. Regie und Buch: Léa Pool. Mit Karine Vanasse, Pascale Bussieres, Miki Manojlovic, Alexandre Merineau. Kanada/Frankreich/Schweiz 1998