Kinder des Olymp

New York, Rio, Tokio: Pünktlich zum 500sten Geburtstag wird Brasilien von DJs und Clubheads wiederentdeckt, die mit dem Land eher Copacabana als Regenwald verbinden. Digitalisierte Neo-Bossa ist der perfekte Lounge-Sound fürs neue Jahrtausend und Bebel Gilberto dessen ideale Botschafterin

von DANIEL BAX

„Ich wollte eigentlich nur für zwei Monate nach New York. Zwölf Monate später kam ich zurück, verkaufte mein Auto, gab mein Apartment auf und zog dorthin.“ Inzwischen lebt Bebel Gilberto schon neun Jahre in New York, ihrer Geburtsstadt. Ironie der Geschichte, dass sie mit diesem Schritt in die Fußstapfen ihrer Eltern stieg. Der Gitarrist Joao Gilberto und die Sängerin Miuchu kamen Ende der 60er in die Staaten, um den Gringos die Bossa Nova beizubringen. Nachdem die musikalische Modewelle dort aber abflaute, kehrte die Familie wieder nach Brasilien zurück, und Tochter Bebel wuchs in Rio auf.

Derzeit pendelt die 33-Jährige verstärkt zwischen Europa und den USA – so häufig, dass die Grenzbehörden schon misstrauisch geworden sind und sie beim Interview in einem Londoner Eckcafé Mühe hat, ihre Augen offen zu halten, des Jetlags wegen. Ihre Begeisterung für New York ist spürbar abgeklungen: „Als ich nach New York zog, gab es dort viel mehr Jazzclubs als jetzt. Leider, denn ich möchte nicht nur zur Hintergrundsberieselung dasein, während die Leute zu Abend essen“, sagt sie. Ihre neue Liebe gilt nun London: „Das ist für mich die Hauptstadt der Musik: Man schaltet den Fernseher oder das Radio ein, und man hört nicht nur Rap oder die gleichen amerikanischen Sachen, die überall auf der Welt laufen. Sogar in der TV-Werbung setzen sie großartige Musik ein.“

Wenn dem so ist, dann dürfte es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis eine Werbeagentur einen Song von Bebel Gilberto in einem TV-Spot einsetzt. Denn „Tanto Tempo“, ihr spätes Debüt, ist randvoll von verträumten Balladen im Bossa-Stil und hat mit seiner dezenten Exotik und zurückhaltenden Eleganz das Zeug zur Konsensplatte des Jahres: zum Chill-out im Club genauso geeignet wie für die abgekämpfte New-Economy-Helden zur Entspannung in der Lounge. Etwas für die diversen Connaisseur-Zirkel und zugleich auch für Lifestyle-Postillen tauglich, die ihren Finger am Puls der Zeit halten. Ausgewogen balanciert die Produktion zwischen akustisch und digital; unaufdringlich brummen die Maschinen, während Bebel Gilberto mal auf Englisch, meist aber in Portugiesisch säuselt. Der nostalgische Ton wird schon am Anfang gesetzt: Das Album eröffnet mit dem vertrauten warmen Kratzen einer Schallplatte, es ist das Sample eines Bossa-Stücks von Baden Powell – das Klirren der Cocktailgläser fügt man beim Hören im Geiste dazu. „Ich liebe Schallplatten“, sagt Bebel Gilberto, „allein schon das Geräusch, wenn sich die Nadel auf die Platte senkt, ist für mich Teil des Rituals. Keine CD kann das ersetzen.“

Ausser „Tanto Tempo“, natürlich. Der Erfolg ist, im doppelten Sinne, programmiert. Denn pünktlich zum 500sten Geburtstag Brasiliens schwemmt eine wahre Flut an brasilianischer, oder besser: brasilianisch inspirierter Musik in die Plattenläden. Nicht überall, wo Brasilien draufsteht, ist allerdings auch Brasilien drin. Tatsächlich verbirgt sich hinter den wenigsten Plattencovern, die derzeit mit Bildern von Zuckerhut, Copacabana oder Gruppenbildern mit Bikinis aufgemacht sind, Musik made in Brasil. Vielmehr tummeln sich auf Compilations mit so illustren Titeln wie „Brasilelectro“ oder „Break ’n’ Bossa“ meist die bekannten Namen der elektronischen Musikszene Europas und Japans, die sich bei ihren Bastelarbeiten der musikalischen Ressourcen des Riesenlandes bedienen. Sie bilden fast schon so etwas wie eine eigene Bewegung, deren besonderes Kennzeichen jedoch das Fehlen eines festen Zentrums ist. Diese Exterritorialität ist vielleicht ein typisches Kennzeichen für die Produktion von Trends im Zeitalter ihrer digitalen Herstellung. Von Freiburg bis London bergen brasilophile Sammler wie Rainer Trüby oder Gilles Peterson jene Schätze, die anderswo dann wieder, von DJ-Projekten in Berlin oder Tokio, zu zeitgemäßen Club-Tunes verschraubt werden. Diese Soundtapeten bieten das perfekte Dekor zu diesem unterkühlten Sommer, so wie Caipirinha, derzeit mit klammen Fingern getrunken, die passende Volksdroge ist.

Bebel Gilberto gibt dem Genre nun ein Gesicht. Zur Botschafterin der Neo-Bossa ist sie qua Geburt geradezu prädestiniert, schließlich entstammt sie Brasiliens prominentester Musiker-dynastie. Dass die Zukunft der Bossa Nova den gleichen Namen trägt wie deren glorreiche Vergangenheit, macht Musikjournalisten die Einordnung leicht. Für Bebel Gilberto allerdings ist der ständige Vergleich eher eine Last: „Ich würde mich selbst nicht als Bossa-Sängerin bezeichnen“, befindet sie ein wenig gequält. „Aber ich fühle mich geschmeichelt, ich nehme das als Kompliment.“

Dass Bossa Nova aller Welt ein Begriff ist, liegt vor allem an US-Jazzern wie Stan Getz und Charlie Byrd, die den neuen Klang in den 60ern aufschnappten und zuhauf an den Zuckerhut pilgerten, dem Olymp der Bossa-Götter. Dort lagen die Treffpunkte jener Mittelschicht-Bohemiens, die tagsüber im schicken Strandviertel von Ipanema und abends in den Clubs der Copacabana-Bucht abhingen und die mit trocken angeschlagener Akustik-Gitarre und einschmeichelndem Gesang eine kleine Revolution ausgelöst hatten. Für einen historischen Moment brachten sie das Lebensgefühl einer Ära auf den Punkt, die, von Optimismus und Fortschrittsglauben durchflutet, in Oscar Niemeyers Planung der Hauptstadt Brasilia Architektur geworden ist.

Seitdem ist die Bossa Nova in Brasilien aber längst von diversen anderen Wellen weggespült worden – nach dem Militärputsch von 1964 verflog das allgemeine Hochgefühl, und mit der Tropicalia-Bewegung der 70er verlagerte sich das musikalische Epizentrum allmählich nach Norden. Heute verbinden sich etwa bei Lenine traditionelle Perkussionsounds mit Rap und Rock. Allenfalls in São Paulo gibt es eine DJ-Szene, zu der sich, von der Elektronik-Avantgarde in Europa aus, eine Brücke schlagen lässt. Einer ihrer herausragenden Köpfe war Mitar Subotić alias Suba. Der Kroate kam ungefähr zur gleichen Zeit nach São Paulo, als Bebel Gilberto nach New York zog, und erwarb sich in der neuen Heimat schnell einen guten Ruf als Produzent; Bebel Gilberto lernte ihn während ihres Sommerurlaubs in Brasilien kennen und gewann ihn für die Aufnahmen zu ihrem Album. Tragischerweise starb er Ende letzten Jahres bei einem Brand in seinem Studio. „Suba hat mir sehr geholfen, meinen Weg zu finden. Er war ein Genie, eine einzigartige Persönlichkeit“, sagt Bebel Gilberto über ihn. „Und er hatte eine große Leidenschaft für brasilianische Musik. Er war sehr vorsichtig beim Einsatz der Elektronik – er war nicht nur auf den Effekt aus.“

Dass nun plötzlich ein paar Bleichgesichter, die im Leben noch nicht an der Copacabana gewesen sind, die alten Bossa-Klänge als Blaupause für ihr Sounddesign entdecken, liegt nicht nur an der gediegenen Retro-Ästhetik der Originale, mit ihrer Aura urbaner Coolness und tropischer Modernität. Es liegt auch an der Zugänglichkeit des Materials: „Weißer Samba“ wird Bossa in Brasilien spöttisch genannt – ein entkoffeinierter Samba, dessen rhythmische Komplexität heruntergeköchelt und damit für Außenstehende leichter genießbar ist.

Gegenwärtig trifft Bossa-Revival auf Bossa-Recycling. Kürzlich gab Bebel Gilberto ihr erstes Konzert in London, im Rahmen eines Brasilien-Festivals im Barbican. Dort hatte auch ihr Vater, nur ein paar Tage zuvor, seinen ersten Auftritt in Großbritannien – vier Jahrzehnte nach dem ersten Bossa-Boom, der England wegen der Beatles nie ganz erreichte. „Leider habe ich ihn nicht gesehen – ich hatte am gleichen Abend ein Konzert in Chicago“, gesteht die Tochter, deren Verhältnis zum Vater ohnehin respektvoll-distanziert ist. „Ich glaube, er ist stolz und ihm gefällt, was ich tue“, sagt sie vorsichtig. „In jüngster Zeit ist er jedenfalls sehr hilfsbereit gewesen – kürzlich hat er mich sogar gefragt, ob ich ihn nicht bei seinem Konzert in Argentinien begleiten mag.“ Lieber als mit dem Vater steht Bebel Gilberto aber mit Kollegen ihrer Generation auf der Bühne. Bei ihrem Debüt im Barbican sprangen ihr jedenfalls die Freunde von Smoke City zur Seite. Die britische Band hat mit ihrem Hit „Underwater Love“, der durch einen Jeans-Werbespot berühmt wurde, schon vor ein paar Jahren Vorarbeit zur Brasil-Beliebtheit geleistet. Ihre verfeinerten Drum ’n’ Bossa-Songs liegen ganz auf der Wellenlänge Bebel Gilbertos.

Mit Brasilien hat die Bossa-Wiedergeburt freilich kaum etwas zu tun. Bebel Gilberto gibt zu, die Entwicklung dort kaum zu verfolgen: „Ich bin nicht vertraut mit allem, was dort passiert.“ Trauert sie einem Brasilien nach, das es so nicht mehr gibt? „Nein“, sagt sie, „weil ich denke, dass sich Brasilien macht. Ich vermisse zwar die sauberen Strände von früher – aber das ist wohl der Preis des Fortschritts.“