Hochzeit im Ausnahmezustand

Tausende Dörfer und Siedlungen sind während des Kriegs in den kurdischen Gebieten der Türkei zerstört und entvölkert worden. Seit Waffenstillstand herrscht, wird in der Hauptstadt Ankara viel über die Rückkehr der BewohnerInnen gesprochen. Bei einer traditionellen Familienfeier in den kurdischen Bergen ergab sich die Gelegenheit zu einer Besichtigung der Verhältnisse vor Ort

von JÜRGEN GOTTSCHLICH

Zum monotonen Takt der großen Trommel stampfen sie im wiegenden Rhythmus über den Platz. Weit mehr als fünfzig Männer, die, jeweils bei ihrem Nachbarn untergehakt, einen Halbkreis bilden. Begleitet von einer Flöte, ist die Trommel bereits seit Stunden im Einsatz. Wer müde wird, schert aus, und ein anderer, der bislang die Tanzenden lediglich durch Klatschen angefeuert hat, nimmt seinen Platz ein. An Ersatz ist kein Mangel. Hunderte von Leuten gehen begeistert mit und warten nur darauf, endlich selbst das Tanzbein schwingen zu können.

Obwohl die Sonne die Temperaturen auf dem staubigen Sandboden längst über fünfzig Grad Celsius getrieben hat, zeigt niemand ernsthafte Erschöpfungserscheinungen. So lange haben die Leute darauf warten müssen, wieder einmal ein Fest feiern zu können, dass jetzt, als es schließlich so weit ist, nichts und niemand ihre Ausgelassenheit dämpfen kann.

„Zwanzig Jahre lang, lange, dunkle zwanzig Jahre, konnten wir hier in unserem Dorf kein Fest mehr feiern.“ Selbst Salim Ensarioglu, obgleich ein abgeklärter Mann, ist gerührt von dem Anblick, der sich ihm bietet. „Dies“ – er zeigt mit seinem Stock auf ein größeres Haus am Rande des Platzes – „ist das Haus meines Vaters.“ „Hier“ – der Stock wandert langsam auf ein weniger repräsentatives Gebäude weiter – „habe ich selbst bis Ende der Siebzigerjahre gelebt.“ Dann ging er in die Politik. Zuerst nach Diyarbakir, später als Abgeordneter nach Ankara.

Heute ist Salim Ensarioglu ein Patriarch in der zweiten Hälfte seiner Sechzigerjahre. Obwohl er wegen einer Beinverletzung einen Stock braucht, macht er immer noch einen höchst lebendigen Eindruck. Wie ein stolzer Bulle stürmt er heute über den Platz. Jahrelang war er nicht mehr im Dorf seiner Väter, jetzt heiratet hier sein Sohn. In einem langen Konvoi, mit dem sich auch etliche Luxuskarossen über die staubige Piste quälen mussten, sind sie alle am Morgen aus Diyarbakir ins Dorf gekommen, um die Hochzeit am Stammsitz der Sippe zu feiern, so, wie es sich gehört für einen Ensarioglu.

Der Name signalisiert absolute Prominenz in den kurdischen Bergen im Südosten der Türkei. Die Ensarioglus sind die Chefs eines der größten Kurdenclans, und noch der Vater Salim Beys war gleichzeitig auch der religiöse Führer der ganzen Sippe. Die Verehrung der Bauern für die Mitglieder der führenden Familie ist bis heute ungebrochen. Salim Bey kann nicht einmal über den Dorfplatz laufen, ohne dass gleich mehrere Bauern auf ihn zustürzen, um seine Hand zu küssen und ihm ihre Ehrerbietung zu bezeigen.

Hier, nur achtzig Kilometer nördlich von Diyarbakir, der überquellenden Metropole im kurdischen Südosten der Türkei, scheint die feudalistische Tradition ungebrochen. Auch der Krieg der PKK, der unter anderem der Befreiung der armen Bauern von ihren Feudalherren dienen sollte, scheint ohne sichtbare Ergebnisse geblieben zu sein.

Doch der erste Eindruck vermittelt nur einen kleinen Teil der komplexen Realität eines Landes, das nach fünfzehn Jahren Krieg einen neuen Anfang sucht. Die Auseinandersetzungen sind auch am Ensariogluclan nicht spurlos vorübergangen. Es gab Tote zu beklagen, und selbst die Verehrung für ihre Stammesoberhäupter konnte etliche junge Leute nicht davon abhalten, sich den Rebellen auf den Bergen anzuschließen. Das Stammhaus der Ensarioglus liegt nahe bei Dicle, ungefähr vierzig Kilometer von Lice entfernt.

Lice gilt als Geburtsort der PKK und ist bis heute Sperrgebiet. Auch Dicle liegt noch in der Hochsicherheitszone. Obwohl zu dem Hochzeitskonvoi vier Parlamentsabgeordnete in dickem Mercedes samt Polizeibegleitung gehörten, wurden an den Checkpoints des Militärs einzelne Fahrzeuge herausgewinkt und kontrolliert. Normalität ist hier auf dem Land zwischen Diyarbakir und Tunceli noch lange nicht eingekehrt.

Die Hochzeit auf dem Dorf ist deshalb nicht nur eine Reminiszenz an die Tradition, sondern auch ein politisches Signal. Salim Ensarioglu ist zwar Abgeordneter der rechtskonservativen DYP, die zurzeit in der Opposition ist, aber als ehemaliger Minister gehört er zu den bekannteren kurdischen Abgeordneten, die sich über die Parteigrenzen hinweg für eine versöhnliche Politik des Staates einsetzen, nachdem endlich die Waffen schweigen. Salim Ensarioglu ist mit der Regierung ganz und gar nicht zufrieden. „Der Staat hat bis jetzt noch keinen einzigen eindeutigen Schritt für den Frieden getan. Es gibt keine Amnestie, die Todesstrafe ist noch nicht abgeschafft, der Ausnahmezustand wird nicht aufgehoben.“

Für die Ensarioglus ist der andauernde Ausnahmezustand nicht nur ein politisches, sondern auch ein ökonomisches Problem. Etliche Dörfer, die zu ihrem Einzugsgebiet gehören, sind vollkommen menschenleer. Die Leute wurden vertrieben, ihre Häuser verfallen. Der Südosten der Türkei macht außerhalb der großen Städte über weite Strecken einen recht verlassenen Eindruck. Die großen Schaf- und Ziegenherden sind verschwunden, die Hochweiden nach wie vor gesperrt, und mehrere tausend Dörfer, vor allem die abseits der Straßen, sind verlassen.

„Der Staat muss ein Programm auflegen, um den Leuten die Rückkehr in ihre Dörfer zu ermöglichen“, fordert Salim Ensarioglu zusammen mit anderen kurdischen Abgeordneten von der Regierung Ecevit. In diesem Punkt ist sich der DYP-Abgeordnete mit den Vertretern der Hadep einig, der prokurdischen Demokratischen Volkspartei, die in Ankara von vielen immer noch als legaler Arm der PKK verteufelt wird.

Im Rathaus von Diyarbakir, das seit den Wahlen im letzten Jahr von dem Hadepbürgermeister Feridun Celik geleitet wird, ist eine Arbeitsgruppe mit Plänen für die Rückkehr von Bauernfamilien in ihre Dörfer beschäftigt. Gerade in Diyarbakir sind in den letzten fünfzehn Jahren viele Flüchtlinge gelandet, mehr als dreihunderttausend schätzt Sefik Türk, ein Stellvertreter des Bürgermeisters. „Wir haben Tausende Anfragen von Familien, die in ihre Dörfer zurückwollen. Doch die Bedingungen fehlen noch. Die Leute brauchen ein sicheres Umfeld und wenigstens eine minimale Unterstützung, damit sie ihr Haus wieder aufbauen und einige Zuchttiere anschaffen können.“

Doch statt Geld für die Rückkehr anzubieten – die kurdischen Abgeordneten fordern fünf Milliarden Lira (rund sechzehntausend Mark) pro Familie – will Ministerpräsident Ecevit so genannte Zentraldörfer bauen lassen, in denen die Rückkehrer besser mit Strom, Wasser und anderen Dienstleistungen wie Schulausbildung und Krankenhäusern versorgt werden könnten.

„Das ist völliger Unsinn“, verurteilt Sefik Türk diese Pläne. „Die Leute wollen in ihre Dörfer zurück, weil dort ihr Land ist und sie ihre Felder wieder bearbeiten wollen. Wenn sie in ein Zentraldorf ziehen sollen, können sie gleich hier in der Stadt bleiben. Das Ganze soll ohnehin nur der Jandarma helfen, die Bevölkerung besser zu kontrollieren.“

Auch von einem sicheren Umfeld für die Bauern kann offenbar noch längst nicht die Rede sein. Osman Baydemir, der Vorsitzende der lokalen Gruppe des Menschenrechtsvereins in Diyarbakir, erzählt von Hunderten Beschwerden von Dörflern, die von der Jandarma oder anderen Angehörigen der zahlreichen Sicherheitsorgane nach wie vor als potenzielle „Terroristen“ schikaniert werden. „Die eigentliche Regierung hier ist OHAL, das Regime des Ausnahmezustands. In fünfzehn Jahren Krieg ist OHAL zur mächtigsten Bürokratie im Südosten geworden. Solange der Ausnahmezustand nicht aufgehoben wird, gibt es hier keine Normalisierung“, glaubt Baydemir. Über diesen Schritt wird in Ankara zwar seit Monaten geredet, aber bis auf eine Lockerung in der Provinz Van hat sich bislang nichts geändert. „Die Regierung und das Militär sind in der Kurdenfrage gespalten. Hardliner und Reformer blockieren sich gegenseitig. Deshalb macht hier der Gouverneur für den Ausnahmezustand die praktische Politik. In den letzten Monaten hat die Repression wieder zugenommen“, berichtet Baydemir.

Bestes Beispiel ist der Menschenrechtsverein selbst. Nachdem die Mitglieder des Diyarbakirbüros im letzten Jahr vor dem Staatssicherheitsgericht von dem Vorwurf freigesprochen worden waren, Propaganda für die PKK betrieben zu haben, wurde ihr Büro Anfang dieses Jahres wieder eröffnet. Nach drei Monaten mussten sie auf Anordnung des Gouverneurs wieder schließen. „Solche Eingriffe“, sagt Baydemir, „hat sich der Gouverneur während der gesamten Kriegsjahre nicht erlaubt.“ Und: „Das Problem hier im Südosten ist, dass der Staat seinen eigenen Bürgern nicht traut. Wie sollen die dann Vertrauen zu den Vertretern dieses Staates haben?“

Am Rande der Hochzeitsfeier der Ensarioglus hat sich am Nachmittag ein kleiner Konvent entwickelt. Nach und nach machen die politischen Größen der Region ihre Aufwartung. Für einen Tag wird das Dorf bei Dicle zum Mittelpunkt der ganzen Gegend. Zuerst fährt der Gouverneur aus Diyarbakir vor. Der hat sich noch kaum vom Kissen des Ehrengastes erhoben, da taucht bereits der Polizeichef auf. Zuletzt erscheint noch eine Abordnung das Bürgermeisters aus Diyarbakir, zu der führende Hadep-Politiker gehören.

Nachdem die Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht sind, diskutiert Salim Ensarioglu mit seinen Gästen die politische Lage. Quasi am runden Tisch wird der Frage nachgegangen, ob der Staat Gelder für die Stadtverwaltung zurückhält, seit die Hadep den Bürgermeister stellt. Salim Bey verspricht, den Beschwerden in Ankara nachzugehen.

Für die Dörfler hatte die Hochzeitsfeier bereits am Tag zuvor begonnen, sie sind jetzt nach Hause gegangen. Die letzten Gäste haben sich am Tor des Ensarioglu-Hauses versammelt, weil sich hier, zum Schluss des Festes, die Braut das erste Mal dem Volk zeigen wird. Bis zuletzt musste sie im Haus bleiben und durfte nur mit anderen Frauen tanzen; und auch zum Abschluss sehen die männlichen Gäste lediglich eine in ihren weißen Brautschleier gehüllte Frau, die mit schnellen Schritten einer Mercedeslimousine zustrebt. Kaum rollt der Daimler vom Hof, haben es auch alle anderen Gäste eilig. In wenigen Minuten rauscht in ihrem Schlepp die ganze Hochzeitskarawane wieder ab.

Zurück bleibt ein Dorf in den kurdischen Bergen, das einen Tag lang als Kulisse für die Aufführung einer Traditionsveranstaltung gedient hat. Auch wenn nach zwanzig Jahren wieder eine große Hochzeit im Dorf gefeiert werden konnte, gibt es doch kein Zurück zu der Zeit vor dem Krieg. Alle, die es sich leisten können, leben längst in der Stadt, und keiner von ihnen wird aufs Land zurückkehren. Nur die Ärmsten der Armen zieht es zurück aufs Dorf. Und denen fehlt das Geld für einen Wiederaufbau.

JÜRGEN GOTTSCHLICH gehört zur Gründergeneration der taz. Er lebt als freier Autor in Istanbul.