Vor den Qualen der Ebene

HALBZEIT FÜR DEUTSCHLAND (4): Die FDP muss sich in ihrer Rolle als Oppositionspartei erst noch einrichten. Einen rechtspopulistischen Kurs kann sie dabei nicht einschlagen

Die FDP auf dem Weg zur Volkspartei, im Sprung auf die 18-Prozent-Marke und damit Eintritt in die Erste Bundesliga, in eine Klasse, in der auch SPD und CDU spielen? Nach Umfragen liegt die Partei momentan bei immerhin 10 Prozent. Doch gemach – eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, ein glücklicher Wahlsieg in Nordrhein-Westfalen noch keine Erfolgspartei. Achterbahn gefahren ist die FDP in ihrer Geschichte ständig, hin- und hergerissen zwischen Hosianna und Totenglöcklein. Selbst bei Bundestagswahlen sind schon zweistellige Ergebnisse eingefahren worden, l96l bei den Anti-Adenauer-Wahlen 12 Prozent, l990 bei den Genscher-Wahlen 11 Prozent. Dann aber Abstürze ins Nichts: Heute sind die Freidemokraten Splitterpartei in Ossiland, in manchem Bundesland rangieren sie auf Platz fünf oder sechs der Rangliste.

Als kleine Partei ist die FDP anpassungsfähig, wendig, flexibel, modern, kein schwerer Tanker: Wenn sie denn genug Geld hat, einen Mölli als Spitzenkandidaten und günstige politische Bedingungen – z. B. schwarz-roten Filz, Spendensumpf und Flugaffäre –, kann sie wie in NRW einen poppigen Wahlkampf hinlegen und überraschend gute Ergebnisse erreichen. Indes: Die FDP ist und bleibt eine Partei, der nur 3,5 Prozent als Stammwähler durch dick und dünn folgen. Die Aufgeregtheit der Journaille und die 18-Prozent-Verheißung Möllemanns können nicht über die Strukturprobleme der Freidemokraten hinwegtäuschen.

Der FDP mangelt es an einem soliden gesellschaftlichen Fundament. Der alte Mittelstand trägt nicht mehr. Das liberale Milieu, einst Rückgrat der Partei, ist erodiert. Darin unterscheiden die Freidemokraten sich von den Sozial- und Christdemokraten, selbst von den Grünen, die sich wenigstens auf Teile ihrer gewerkschaftlich organisierten Facharbeiter, der Katholiken oder der postmateriellen Alternativen verlassen können.

Der FDP ist zudem liberale Konkurrenz erwachsen, nämlich durch Bündnis 90/Grüne. Diese vertreten heute neoliberale Positionen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik und haben als Bürgerrechtspartei den Freiburger Kreis endgültig marginalisiert. Zugespitzt formuliert: Die politische Teilung des Liberalismus, wie wir sie aus Weimar und Bismarck-Reich kennen und die durch die Gründung der FDP in Heppenheim l948 überwunden schien, hat sich hinter dem Rücken der Akteure wieder eingestellt. Die FDP kann kaum noch auf taktische Stimmen, also Leihstimmen, hoffen, denn sie hat ihre Schlüsselstellung bei Koalitionsbildungen in den Ländern und im Bund verloren. Grüne und PDS konkurrieren mit ihr um die Gunst der SPD, bald wohl auch um die der CDU.

Seit Werner Hoyers desaströsem Ausspruch von der Partei der Besserverdienenden ist die Ost-FDP, die zum sozialliberalen Flügel der Bundespartei hätte erblühen können, zerstört. Das liberale Pflänzchen wächst nur noch in den Biotopen einiger sächsischer Kommunen. Wer aber bundesweit 18 Prozent anstrebt, muss in den neuen Bundesländern wenigstens an die ominösen 5 Prozent heranreichen.

Könnte man nicht den Weg nach rechts einschlagen? Warum sollte die FDP nicht jenes Wählerpotenzial von etwa 15 Prozent gewinnen können, das rechtspopulistisch in Umfragen immer wieder auftaucht. Also: Haiderisierung, dem Weg rechtsliberaler Parteien in skandinavischen Ländern, in der Schweiz, in Belgien und Holland sowie in Österreich folgen? Dem stehen strukturelle Restriktionen entgegen: Die CSU versucht recht erfolgreich und in eleganter Arbeitsteilung mit der CDU den rechten Rand zu integrieren, da bliebe kaum Platz für die FDP. Der Appell an den inneren Schweinehund, die gezielte Mobilisierung von Vorurteilen, dürfte zudem sehr schnell an die Tabugrenze stoßen, die durch die besondere deutsche Historie, die Geschichte des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen, gesetzt ist. Und noch fehlt das Personal, das eine derartige Strategie durchsetzen könnte. Zwar dominieren in der FDP nicht mehr die grauen Ministerialdirigenten wie Gerhardt und Kinkel, doch würde man den wendigen Westerwelles, Möllemanns und Kubickis, die prinzipiell wohl bereit wären, auf (fast) jeden Expresszug aufzuspringen, der Erfolg bringt , eine derartige Kehrtwendung kaum abnehmen.

Seien wir realistisch: Der FDP wachsen die Trauben nicht in den Mund. So erfreulich für sie die Umfragen sein mögen, die parlamentarische Wirklichkeit wirkt ernüchternd. Die Partei sitzt momentan in nur fünf Landtagen, im Unterschied zu den Grünen, die in zehn vertreten sind. Um solide voranzukommen, darf die FDP die Mühen, ja die Qualen der Ebene nicht scheuen, sie muss einen Schritt nach dem anderen setzen. Der erste ist getan: Durch ihre Zustimmung zur Steuerreform und ihre Teilnahme an den Rentengesprächen hat sie sich aus der babylonischen Gefangenschaft der CDU befreit, muss sich in ihrer Rolle als Oppositionspartei aber noch einrichten. Sie darf ferner Verlockungen des Genscherismus nicht anheim fallen, nämlich taktisch brillant, aber inhaltlich beliebig nach der Macht zu streben. Koalitionsoptionen sind jeweils inhaltlich und von spezifischen Interessen her zu begründen. Erst dann gewinnen die Freidemokraten Profil. Und nur so könnten sie es schaffen, sich ein solides Wählerfundament zu bauen. Damit ist ein weiterer Schritt angesprochen, den der Generalsekretär in seiner bunten, manchmal auch bürokratischen Begrifflichkeit „Alleinstellungsmerkmal“ nennt. Welches Thema, welchen Politikbereich, welches Interesse vertreten die Freidemokraten in „einzigartiger“ Weise, so dass sie unverwechselbar sind? Womit locken sie bestimmte Gruppen von Wechselwählern, gewinnen diese mittelfristig als Sympathisanten?

Auf die Bildungspolitik stürzen sich alle Parteien, ein Blumentopf ist da kaum zu gewinnen. Bietet sich die Wirtschaftspolitik an, etwa nach dem Motto „Steuersenkung über alles“? Eine Patentlösung gibt es nicht, die Partei wird experimentieren müssen, bis sie jenes Thema gefunden hat, mit dem sie auf die Erfolgsbahn einschwenkt. Schließlich: Meinen die Liberalen es wirklich ernst mit den 18 Prozent, dann müssen sie etwas für ihre Organisation tun: Mitglieder wären anzuwerben, Parteiaktivisten zu gewinnen. Denn mit Geld und einer kräftigen Portion Glück kann man – wie Möllemann – aus dem blauen Himmel des Ruhrgebiets zwar eine Punktlandung am Wahltag hinlegen, zur mittelgroßen stabilen Partei reicht das indes nicht. Da ist dann der schwierigste Schritt zu gehen, nämlich der von einer ehrenwerten Honoratiorenpartei zu einer Mitglieder- und Sympathisantenorganisation neuen Typs, die sich nicht nur gesellschaftlich verwurzelt, sondern als permanente liberale Werbeagentur in Nachbarschaften, Vereinen und an Arbeitsplätzen für die Präsenz der FDP sorgt. Wahrlich, ein mühsamer Weg, gerade angesichts struktureller Hindernisse, der aber einzuschlagen ist, soll das „Projekt l8“ nicht PR-Gag bleiben.

PETER LÖSCHE

Hinweise:Das liberale Milieu, einst Rückgrat der Partei wie zum Beispiel in Baden-Württemberg, ist erodiertDurch ihre Zustimmung zur Steuerreform hat sich die FDP aus der babylonischen Gefangenschaft der CDU befreit