die stimme der kritik: Betr.: Das Fernsehen, der Fußball und die deutsche Nationalmannschaft
Das Spiel dauert vierundneunzig Minuten – rund um die Uhr
Früher war alles ganz einfach: Da war der Ball noch rund, dauerte ein Spiel neunzig Minuten, und Fußball im Fernsehen gab es in der ARD-Sportschau mit Huberty und Rauschenbach. Als kleiner Junge träumte man zu der Zeit immer davon, endlich mal ein Bundesligaspiel live und in voller Länge im Fernsehen zu sehen.
Heute ist nur noch der Ball rund. Ein Spiel dauert mindestens vierundneunzig Minuten, und Fußball im Fernsehen gibt es rund um die Uhr, auf allen Kanälen, in voller Länge jedes noch so unwichtige Spiel. Die Jungsträume sind Realität geworden, und aus den übrigen Realitäten kann man sich jetzt ohne Ende ausblenden. Allerdings schlagen diese immer wieder mit voller Wucht zurück. Denn Fußball ist jetzt auch der blaue Daum-Anzug, gesponsert von Avanza-Strom, die silberblaugrauen Haare von Christian Ziege, die Region. Fußball ist Krombacher Pilsener, die Anzeige von Opel gegen Ausländerfeindlichkeit (wo sind Tarnat, Fink und Zickler?) und Jakobs, die Kaffeefirma, die bald Kraft-Foods heißt und Bremer Fan-Kurven in Kraft-Kurven umbenennen möchte. Fußball ist aber auch, wenn die BZ den „Schunkelkönig“ Achim Mentzel fragt, ob ihm denn nun die Live-Konferenzschaltung auf Premiere World gefallen habe: Nicht wirklich, doch Mentzel orakelt, die Leute ohne Premiere „müssen sich ihren Fußball-Sonnabend völlig neu gestalten“. Die gehen nämlich in Kneipen und gucken dort Bayern gegen Hertha, wie früher. Sie müssen allerdings damit rechnen, dass ihr Wirt demnächst von Premiere World verklagt wird. Denn Wirte brauchen „Gastro-Abos“, die kosten 349 Mark, also mehr als die Privatabos, und schummeln gilt nicht. Dann muss halt das Bier eine Mark teurer werden, alles hängt eben miteinander zusammen.
Da lobt man sich doch die deutsche Nationalmannschaft: Bei der ist alles wie gehabt. Ribbeck heißt jetzt Völler und Stielicke Skibbe, die Stimmung ist ausgezeichnet, wie unter Ribbeck, und ganz wichtig sind wieder die deutschen Tugenden: Ordnung, Disziplin und Seriosität. (Seriosität? Ja gut, die ist neu, ein Task-Force-Officer wie Kalle „modestes Spiel“ Rummenigge muss ja auch für was gut sein). Fehlt eigentlich nur, dass die Mannschaft ins Studio geht und die gute alte Fußball-Hymne „Fußball ist unser Leben“ noch mal einspielt. Das wäre die endgültige Beschwörung der alten Zeiten und Tugenden, in jedem Fall aber auch hundertprozentig auf der Höhe der Zeit.
GERRIT BARTELS
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