Die Hamburg-Amerika-Linie

Eine musikalische Reise durchs spätbürgerliche Zeitalter  ■ Von Roger Behrens

Ein Bankkaufmann, ein zum Katholizismus konvertierter Jude, ein Sympathisant des Sozialismus und ein Meister der Kopie. Sie alle hat Dirigent Christoph Eschenbach an Bord einer Passage der Hamburg-Amerika-Linie geholt, als Tonkünstler auf ein langsam sinkendes Schiff, das unterwegs den Eisberg „Moderne“ rammen wird. Der Bankkaufmann ist Charles Ives (1874 – 1954), der Komponieren zum Nebenberuf hatte, das aber so erfolgreich, dass er die amerikanische Musik, ja die musikalische Moderne nachhaltig beeinflusste, auch wenn er als einer der wenigen nicht in Europa komponierte. Von Ives' Werk nicht unberührt geblieben ist auch Aaron Copland, gleichwohl er wesentliche Einflüsse aus dem Paris der 20er mitnahm, Strawinskys Neoklassizismus und den Jazz. Zu den bekannteren Werken des hierzulande nur selten aufgeführten Copland (1900 – 1990) gehören Rodeo und vor allem Fanfare for the Common ManEmerson, Lake & Palmer haben das kurze, imposante und im übrigen sozialistisch der Arbeiterbewegung zugedachte Stück adaptiert; ebenso Hoe-Down aus Rodeo.

Fast ein dritter Amerikaner im Bunde ist der konvertierte Gustav Mahler (1860 – 1911), der 1907 nach New York ging; auch in Hamburg war er, ebenso wie Brahms, der hier geboren wurde. So versammeln sich vier Komponisten, die für ihre Zeit Ungewöhnliches geschaffen haben und als Außenseiter galten, als avantgardistisch – Wegbereiter der musikalischen Moderne, die zugleich deren ganze Dramatik und Agonie auskomponierten: Gerade Brahms' 2. Sinfonie, die als heiterste gilt, schlägt doch immer wieder ins Schmerzvolle um. Sie spielt mit der Volksmusik, wie später Mahler; Mahler, der das Banale zur Genialität verdichtete, verfährt so nicht anders als Ives; den sinfonischen Umgang mit dem Volkslied ebenso wie das Einfache hat wiederum Copland in seiner Idee einer amerikanischen Musik aufgenommen.

Das von Christoph Eschenbach dirigierte Houston Symphony Orchestra wird mit Thomas Hampson (Bariton), ein Programm bieten, das von drei Klammern zusammengehalten wird, welche die gesamte Dynamik der frühen musikalischen Moderne markieren. Erstens: die tonmalerische Auseinandersetzung mit der Natur, mit dem Widerspruch von Stadt und Land. Zweitens: die sinfonische Dichtung, die Entwicklung aus dem Volkslied. Drittens: die spätromantische Spannung zwischen größter Heiterkeit und tiefster Trauer. Es geht mithin allen Kompositionen um eine Schönheit der Welt, die nicht mehr schön ist – ein musikalischer Verweis auf das Unbehagen in der Kultur.

Brahms Sinfonie Nr. 2 wird seine „pastorale“ genannt – sie hat das Naturbeschauliche, Ländliche von Beethovens Sechster an sich (Nietzsche nannte Brahms einen „Meister der Kopie“). Bereits im ersten Satz erklingt eine Variation auf „Guten Abend, gute Nacht“. Im Finalsatz dann dieselbe Figur, mit der Mahler seine 1. Sinfonie eröffnen wird: „Wie ein Naturlaut“ heißt es dort. Die erste Sinfonie nimmt auch Motive der vier Jahre zuvor entstandenen Lieder eines fahrenden Gesellen auf, Mahlers erstes größeres Werk (1885). Thema der vier Lieder ist eine verlorene Liebe, die Mahler in eine existenziale Stimmung von Werden und Vergehen von Natur bringt, die hier fast metaphysisch erscheint: „Lenz ist ja vorbei! Alles Singen ist nun aus!“ Coplands Old American Songs sind zwar auch naturromantisch, aber vom Amerikanischen erfasst, pragmatisch, vorwärts. Das wohl sperrigste, merkwürdigste Stück in der Reihe der Kompositionen ist Charles Ives' Variations On America von 1891, in der Ives eine fast Riff-artige Ackordstruktur bis zur Polonaise variiert.

Houston Symphony Orchestra, Thomas Hampson, Christoph Eschenbach: Ives, Variations on America; Mahler, Lieder eines fahrenden Gesellen; Copland, Old American Songs; Brahms, Sinfonie Nr. 2; Dienstag, 22. August, 20 Uhr, Musikhalle