Der Mann an der Mundharmonika

■ Label Porträt Nr. 7: Gleich hinter der Hochschule für Künste versteckt sich ein Eldorado für Bluesfreaks. CrossCut ist europaweit führend beim Verticken von Bluesscheiben. Selbst ZZ-Top-Gitarrist Billy Gibbons wurde hier fündig

Vor zehn Jahren spielte ZZ-Top in Hamburg auf, und der Gitarrist dieser Heavy-Budweiser-Blueser, Billy Gibbons, machte sich seinen Spaß daraus, seinen WEA-Label-Betreuer mit dem Wunsch nach wirklich raren Blues-CDs zu frotzeln – jetzt und sofort. Doch der wusste genau, wohin man sich in derlei Notfällen zu wenden hat: an CrossCut. Die Firma von Detlev Hoegen beschäftigt vier Mitarbeiter und produziert nicht nur drei bis vier CDs pro Jahr, sondern ist europaweit der umfassendste, wichtigste Mailorder-Versand in der Sparte Blues. 250 in Kleinstschrift bedruckte Seiten umfasst der „Catalog 2000“. 8.000 Titel warten im Lager auf Abruf. So kam es, dass Gibbons mit seinem Miet-BMW in 28195 Bremen, Kleine Helle 44/45 vorfuhr, zusammen mit Chauffeur Hardy, Leibwächter und Geliebten und man ein paar Stunden entspannt plauschte, wie üblich über Gott und seine fucking Welt.

Es waren Zufälle, die Detlev Hoegen ins Label-Business hineintrudeln ließen. Eigentlich studierte er ein bisschen Archäologie und ein bisschen mehr noch Erziehungswissenschaft mit Berufsziel Journalistik und machte – auch ein bisschen – Erwachsenenbildung in gewerkschaftlichem Rahmen. Irgendwann jobbte er nebenbei bei „Ear Schallplatten“ (heute Vor dem Steintor) und wurde später Mitinhaber von einem Plattenversand, der sich auf Raritäten der 60er Jahre spezialisiert hatte. Sein Kumpel Richard Weize von „Bear Family Records“ (taz-Label-Porträt, Nr.6) half ihm dabei, Kontakte in der Musikbranche zu knüpfen. Und 1981 ward CrossCut geboren.

Crosscut Saw bedeutet Kreuzschnittsäge und ist ein Songtitel von Albert King, in dem es „wie immer im Blues um Frauen geht, welche die Männer auf die eine oder andere Weise in nackte Verzweiflung treiben“, wobei Detlev Hoegen leider vergessen hat, in welcher Art die Baumsäge mit den grausamen Medusen in Berührung kommt, schade.

Obwohl Hoegen 40 Stunden die Woche in Blues macht, ist sein Verhältnis zum Objekt des täglichen Schuftens ein ambivalentes. Schon im Alter von zwölf, dreizehn Jahren hing er am Radiogerät und notierte voller Bildungseifer jene Bands, die er seinem Wissensschatz einzuverleiben gedachte. Seine Erkenntnisquellen waren BFBS und CFN, also der britische und kanadische Soldatensender in Westfalen. „Blues fand ich viel spannender als alles andere, und die Rolling Stones hielt ich für Kinderkram gegenüber einem verfrickelten Muddy-Waters-Gitarrensolo.“

Bald interessierte er sich aber mehr für Doors, Jimi Hendrix und obskure Psychedelika. Als dann die von Hoegen heißest verehrten „Grateful Dead“ einen Doppelsalto rückwärts zur Countrymusik machten und die „Fabulous Thunderboys“ 1979 mit ihrer Vision von einem rundum erneuerten, zeitgemäßen Blues einschlugen, flammte sie wieder auf, die alte Liebe zu den Urgattungen der nordamerikanischen Musik – „und zwar nicht nur bei mir, sondern bei einer ganzen Generation“. Hoffnungsselig sah man einer Weiterentwicklung der alten Schemata entgegen. Die neue Blueseuphorie entzündete sich zuerst in Europa. Und so ist es symptomatisch, dass ein Steve Ray Vaughan seinen ersten großen Auftritt beim Jazzfest in Montreux hatte, auch wenn er dort von zarten Jazzerohren ausgepfiffen wurde – wegen anhaltenden Lärmens. Richtig hoch schwappte diese Blueswelle erst in Amerika. Deshalb hat das Bluesfestival in Chicago 300.000 Besucher und das im Mississippi Valley 150.000, während die europäischen Festivals, etwa in Peer/Belgien, Ospel/NL oder Bishopsstock/GB, bei 10.000 dahindümpeln. Mitverantwortlich für die Lebendigkeit der amerikanischen Szene sind wohl jene 50 oder 60 regionalen „Blues Societies“, die sich durch Fanzines und Konzertveranstaltungen ehrenamtlich für die Blueskultur einsetzen.

Der Aufbruchsgeist der 80er verebbte bald. Heute ist der Blues eher eine statische Angelegenheit, und zwar aus musikalischen und soziologischen Gründen. Auf Folk und Country folgte angeschrägter Neofolk und Neocountry, die den jeweiligen Genres völlig neue Gefühle abtrotzten und die Hörerschicht der Independentszene erschlossen. Und was blieb aus? Ein Neoblues. „Das scheint irgendwie nicht zu funktionieren. Während es vom Countryheroen Hank Williams wunderbar gegen den Strich bürstende Coverversionen von den Residents bis zu Townes van Zandt gibt, scheint das zum Beispiel bei Stücken von Muddy Waters nicht recht hinzuhauen. Am Blues beißt sich jeder Erneuerungswillige die Zähne aus.“

Wenn dann aber doch mal einer die Grenzüberschreitung wagt und ein Mighty Sam McClain ein Saxophon eingemeindet oder ein Charlie Musselwhite mit vollem Bläsersatz das Crossover zum Latingroove versucht, dann winkt der typische Bluesfan genervt ab. Die ästhetische Experimentierfreude dieser Spezies von Mensch ist ziemlich bescheiden, „wie wenn sie in einem Teufelskreis feststecken würde“. Hoegen weiß noch mehr über den Bluesafficionado. „98 Prozent meiner CD-Käufer sind männlich und nach dem, was ich bei Telefonbestellung so alles von Pfingst- und Osterferien zu hören kriege, handelt es sich vermutlich bei der Hälfte um Lehrer Mitte 40.“

Während bei Blueskonzerten in Nordamerika heftig abgehottet wird, ist der Blueskonsum in Deutschland eher ein akademischer. „Man sitzt brav auf seinem Stuhl und konzentriert sich. So war es im Stubu und so war es bei den Radio-Bremen-Konzerten in der Schauburg.“ Letztere wurden Anfang der 90er eingestellt, wegen Publikumsschwund.

Die Plattenverkäufe von CrossCut dagegen stiegen bis 1989 kontinuierlich und liegen seither einigermaßen konstant bei ordentlichen zwei Millionen Mark Umsatz. 30 Prozent der CDs gehen ins europäische Ausland. Und wenn Hoegen eine lizensierte CD mit Chicago-Blues an einen Privatkunden in Chicago ausliefert, beginnt er zu zweifeln an der Vernunftfähigkeit dieser Gesellschaft.

Im Unterschied zum Tanzverhalten gibt es im Blues beim Alkohol keine gravierenden regionalen Differenzen. „Bier gehört zum Blues wie der Knödel zum Schweinsbraten und vor Ende eines Festivals sind drei Viertel der Leute abgefüllt bis Oberkante.“ Hoegen dagegen ist bekennender Weingenießer.

Noch mehr bekennend, allerdings weniger Kenner ist Charlie Musselwhite. Als CrossCut eine CD von ihm produzierte, soff er Högen den halben Weinkeller leer, 15 Flaschen am Tag, woraufhin Högen doch lieber vorübergehend auf die Bezugsquelle Aldi umschwenkte. „Turnt auch besser“, meinte Musselwhite. Als vor etwa zehn Jahren ein Mädchen in einen Brunnenschacht fiel und tagelang feststeckte, schwor Musselwhite, dass er abstinent würde, wenn es gerettet werde. Es wurde. „Musselwhite gehört zu den wenigen, die auch nach dem Entzug ihre Klasse behielten. Wohingegen ein Ronnie Earl nicht nur den Alkohol aufgab, sondern gleichzeitig damit auch ein Stück seiner Intensität.“

Produzenten, Konsumenten und Musiker haben heute meist weiße Hautfarbe, „wo wir ein wenig gegenhalten möchten, indem wir auf unsere Katalogcovers lieber das Foto eines unbekannten schwarzen Sängers aus North Carolina hauen als eines von Johnny Winter.“ Unter den ca. 30 Produktionen, die CrossCut seit 1984 produzierte, gibt es keine einzige Musikerin, was unter anderem ökonomische Gründe hat. Frauen verkaufen sich schlechter.

Blueser aus Deutschland auch. „Smells like Karokaffee.“ Deshalb legte sich ein Blueser, dem das unsägliche Schicksal widerfuhr, Schweizer zu sein und noch dazu Thomas Erb zu heißen, das superdoofe Pseudonym Hank Shizzoe zu und einen Lebenslauf vom Feinsten: geboren auf Kaneohe/Hawaii, ethnologische Studien bei Kastagnettenbauern (!) in Cordoba und bei Schuhschnitzern in Amsterdam, Konzerttour durch Londons Coiffeursalons, Teilnahme am Mannschafts-Mandolinen-Stimmen bei den Olympischen Spielen. Und die Presseheinis glaubten's – da ist doch Tom Kummer ein glatter Kümmerling. Immerhin verkauften sich die drei Shizzoe-CDs von CrossCut insgesamt 45.000 Mal, für das Label eine Rekordzahl; bewegen sich doch sonst die Auflagen der CDs zwischen 3.000 und 10.000 Stück.

Detlev Hoegen spielte selbst mal in einer Countryrock-Band, die „The Spokane“ hieß, ganz einfach, weil der Schlagzeuger der Band schon mal diese kleine Stadt im Staate Washington aufgesucht hatte. Hoegen war der Mann an der Mundharmonika. Davon sieht man heute nichts mehr. Er hüllt sich in weißes Hemd und feine Stoffhose. Seit 20 Jahren arbeitet er auch als Rundfunkmoderator, derzeit einmal im Monat am Dienstag um 22.05 Uhr „Square Music Square“ auf Radio Bremen 2. Auch für diesen Job muss er auf dem Laufenden sein, was das aktuelle Bluesgeschehen anbelangt. Privat aber hört er mittlerweile lieber 50er-Jahre-Bebop oder kubanische Musik. „Schwermütigen Blues gibt es bei mir nur noch, wenn ich seltsam bei Laune bin.“ bk

Katalog ordern unter CCR, Postfach 106524, 28065 Bremen oder blues§crosscut.de. Im September erscheint bei CCR die CD des in Bremen lebenden kanadischen Singer/Songwriters Dave Goodman