Engins besterTrick

Ausgerechnet in Wedding gibt es ein neues Varietétheater. Ein Zaubertrick macht das „Chamäleon im Glaskasten“ zum kulturellen Standortfaktor

von STEFAN STREHLER

Oguz Engin ist ein Zauberer, der sein Handwerk beherrscht. Er lässt Vögel, Zitrusfrüchte und antiquarische Radiogeräte verschwinden und kann mit Spielkarten umgehen wie Maradona mit einem Fußball. Vor meiner Nase versenkt er, während ich seine Arme festhalte, ein buntes Tuch in einem zusammengerollten Stück Papier; das Tuch bleibt verschwunden, auch nachdem er das Papier wieder entblättert und zerrissen hat. „Er kann wirklich zaubern“, flüstert meine Begleitung beeindruckt. Auf dem Herweg prahlte sie noch, alle Zaubertricks schon aus dem Fernsehen zu kennen. Oguz Engins bester Trick, der bisher garantiert nicht im Fernsehen entlarvt wurde, besteht darin, aus einem fast leeren Theater einen magischen Ort zu machen. Zu Beginn bittet er die etwa 20 Zuschauer, einfach so zu tun, als wären sie 100. Das Publikum willigt ein, und der Magier aus Kreuzberg bedankt sich mit einer flirrenden Show.

Der Ort, in dem die Zauberei stattfindet, heißt „Chamäleon im Glaskasten“ und liegt in der Prinzenallee 33 in Wedding. Um die Ecke, in der Fabrik Osloer Straße, gibt es ein Kindermuseum. Ansonsten dominieren abgewirtschaftete Eckkneipen, türkische Cafés, Dönerläden und Billigpuffs das kulturelle Milieu. Die Soldiner Straße, die ein paar Meter vom Glaskasten entfernt die Prinzenallee kreuzt, ist eines der sozial gefährdeten Gebiete, die durch Quartiersmanager betreut werden. Als vor ein paar Wochen junge Artisten in einem bunten Zug über das Straßenfest in der Soldiner Straße liefen, wurden sie als Schwuchteln beschimpft. Es ist entweder sehr mutig oder sehr naiv, ausgerechnet hier ein Varietétheater zu eröffnen. Daran ändert auch die wechselvolle Geschichte des Hauses nichts.

Der Glaskasten war anfangs des letzten Jahrhunderts ein Tanzlokal, mitten im damaligen Vergnügungsviertel Gesundbrunnen. Wenn kein Tanz stattfand, trafen sich im Ballsaal Kaninchenzüchter und Droschkenunternehmer zu Versammlungen. Ende der 20er-Jahre fanden auch kommunistische Schulungen statt. Die SA machte 1933 ein Sturmlokal daraus und funktioniertedie Kegelbahn in einen Folterkeller um. Nach dem Krieg lebte der Ort wieder auf und wurde für seine Maskenbälle berühmt. Aber infolge des Mauerbaus trocknete das Amüsierviertel Gesundbrunnen langsam aus. Auch als Diskothek konnte der Glaskasten nicht überleben. Seit 1981 schließlich stand er leer.

Als das Chamäleon-Varieté 1997 einen Nutzungsvertrag unterzeichnete, hatte man große Pläne. Jenseits der touristisch gewordenen Hackeschen Höfe (wo sich das Haupthaus befindet) wollte man das Berliner Publikum locken und gleichzeitig eine Artistenausbildungs- und -nachwuchsspielstätte etablieren. Der Senat hatte 3,4 Millionen für die Renovierung des Gebäudes springen lassen und im Gegenzug eine kulturelle Nutzung angeordnet. Mit der hauseigenen Mischung aus Pioniergeist und Verrücktheit habe man sich in dieses Abenteuer gestürzt, erzählt Gregor Rajewski vom Chamäleon. Aber schon vor der Eröffnung war das Geld alle. Lottomittel, mit denen man aufgrund politischer Flüstereien fest gerechnet hatte, wurden nicht bewilligt. Eine gebrauchte Technik wurde mit dem Notgroschen gekauft. Ein Unterhaltungstheater ohne staatliche Zuschüsse zu betreiben ist eine aberwitzige Angelegenheit. Der Saal mit 99 Plätzen muss an mindestens vier Tagen die Woche gefüllt sein, um gerade die Kosten zu decken. Doch davon ist man weit entfernt. Auch geografisch. In Wedding ins Theater zu gehen ist ungefähr so, als würde man den Potsdamer Platz aufsuchen, um ein anständiges Köftesandwich zu bekommen.

Gregor Rajewski wirkt etwas hilflos. Er würde gern den Gastronomiebereich verpachten, kann aber keinen langfristigen Vertrag abschließen, weil er nicht weiß, wie lange man sich das Baby noch leisten kann. Leute aus der Umgebung würden den Saal gern für Ausstellungen und Feste nutzen, wollen oder können aber nichts bezahlen. Das Chamäleon findet Kiezaktivitäten sympathisch, benötigt aber vor allem Umsatz. Den erhofft man sich nun von exklusiven Vermietungen für Abendveranstaltungen. Bei der Eröffnung im Februar kam ein gut gekleideter Mann auf Gregor Rajewski zu und sagte, er freue sich, dass hier jetzt endlich was los sei. Er stellte sich als Investor eines Immobilienobjekts in Gesundbrunnen vor, der in seinem Verkaufsprospekt den Glaskasten als kulturellen Standortfaktor preist.

Chamäleon im Glaskasten, Oguz Engin zum letzten Mal am 18. und 19. August um 20 Uhr, am 20. August um 17 Uhr