Working-Class-Queen

Brenda Blethyn ist die Mutter aller englischen Kleinbürgerinnen. In „Grasgeflüster“ gibt sie die Haschisch züchtende Witwe. Ein Porträt

von ANKE LEWEKE

Konfrontation mit zwei Füßen. Sie wirken müde von der schweren Schufterei in der Fabrik. Gleichzeitig sind sie aber auch auf der Lauer. Sobald das Telefon klingelt oder jemand an der Tür klopft, springen sie putzmunter wieder auf. Zwei rührige Füße, die mehr auszudrücken vermögen, als ihre Besitzerin es je mit Worten könnte. Wenn Brenda Blethyn als einfache Arbeiterin Cynthia aus Mike Leighs „Lügen und Geheimnisse“ sich ihre Einsamkeit, ihr Unerfülltsein eingestehen würde, käme es unweigerlich zum Zusammenbruch. Deshalb versteckt sie sich hinter schreiend türkis- und pinkfar- benen Strickpullis und übertüncht ihre eigentlichen Gefühle mit einem besinnungslosen Redefluss.

In „Little voice“ überdreht Blethyn als tyrannische Mutter die Schreckschraube noch, hier rutscht die Stimme endgültig ins Ordinäre, und mit den engen Kleidern schnürt sie sich auch jede Empfindung ab. In ihrem neuen Film „Grasgeflüster“ betreibt die britische Schauspielerin dann die Flucht ins Dauerlächeln. Das bei aller Haltung doch auch immer ein bisschen traurig wirkt. Wenn sie spricht, schwingt in ihrem Tonfall eine leise Bitterkeit mit.

Brenda Blethyn, die Meisterin des Überspielens, die mit viel Spielwitz und variantenreichen Stimmlagenwechseln ihren zu kurz gekommenen Frauenfiguren immer neue Deckung gibt. „Aber das ist im wirklichen Leben auch nicht anders, die meisten Leute zeigen doch auch nicht alles von sich. Und wenn man irgendwann etwas preisgibt, dann hält man wieder etwas anderes zurück. Man gibt niemandem immer alle Informationen. Die Charaktere, die ich spiele, wollen andere nicht verletzen und sich selbst auch nicht. Wir haben doch alle unsere Geheimnisse, oder?“ Irgendwie offen und verhalten zugleich blickt Brenda Blethyn mich an. Ein Interview mit dieser Schauspielerin ist denn auch eine Konfrontation mit einer Zurückhaltung, über die ihr quicklebendiges Auftreten fast schon wieder hinwegtäuscht.

„Machen Sie schnell“, fordert sie mich beim Eintreten ins Hotelzimmer auf. „Dann kommen sie auch ins Fernsehen.“ Winkend steht sie am Fenster, imitiert zur Freude eines TV-Teams augenzwinkernd die Königinmutter. „Ach, ich wollte gerade noch etwas Lippenstift auflegen. Aber ich konnte den Konturenstift nicht finden, jetzt sehe ich aus, als hätte ich einen Lutscher gegessen.“ Lachen, Achselzucken, und schon richtet sie sich wie zum Five-O’clock-Tea häuslich im Sessel ein. Mit dieser pragmatischen Uneitelkeit packt sie auch ihre Rollen an. Nicht nur, was die Optik betrifft – es gehört schon jede Menge Mut zur Hässlichkeit dazu, jemanden wie die impertinente Mari aus „Little voice“ oder die begriffsstutzige Cynthia aus „Lügen und Geheimnisse“ zu spielen.

Die Souveränität, mit der Brenda Blethyn ihren nicht gerade sympathischen Charakteren dann doch noch ein wenig Schönheit und Liebenswürdigkeit abgewinnt, brachte ihr zwei Oscar-Nominierungen und den Titel der „Working-Class-Queen“ ein. „Eine Queen von was auch immer zu sein, ist natürlich erst mal schön. Es ist auch schön, wenn die Leute meinen, dass man etwas gut gemacht hat. Aber es grenzt auch immer ein. Stellen Sie sich mal vor, man würde Helena Bonham Carter als ‚Queen der Upper Class‘ bezeichen, das würde ihr auch nicht gefallen. Außerdem spiele ich normalerweise eher Mittelklassecharaktere wie in „Grasgeflüster“. Auch im Fernsehen oder im Theater.“

Wenn Blethyn von ihren Filmfiguren erzählt, dann mit der Zärtlichkeit einer mütterlichen Freundin. „Ach, die süße, kleine Grace“, oder: „Ich kenne Cythnia und ihre Reaktionen ganz genau.“ Dann kommen wir auf Dawn aus „Girl’s night“ zu sprechen, und zwar auf die Sterbeszene. Umringt von ihrer Familie liegt die vom Krebs gezeichnete Frau im Bett, doch die Blicke von Mann und Kindern gelten nur dem Fernseher. Für einen kurzen Moment wird Brenda Blethyn ganz ruhig. „Die haben gar nicht gemerkt, dass sie von ihnen ging. Wenn ich nur an diese Szene denke, beginne ich zu weinen. Es bricht mir das Herz. Die Familie glotzt auf diese blöde TV-Show. Aber so war das Leben dieser Frau. Ihr Sterben war nur die konsequente Fortsetzung. Ist das nicht traurig?“

Bei allem Mitgefühl: Blethyns Verständnis beruht nicht auf dem völligen Aufgehen in der Rolle bzw. dem Versuch einer Identifikation. Hinter der Wahrhaftigkeit ihrer Filmfiguren steckt eine komplette Konstruktion. Eine Herangehensweise, die sie durch die Zusammenarbeit mit Mike Leigh kennen gelernt hat. Ohne die Handlung des Films zu kennen, müssen sich Leighs Darsteller ausschließlich auf ihre Figur konzentrieren, die er gemeinsam mit ihnen entwickelt. „Man muss herausfinden, wo der Charakter vorher war, welche Erfahrungen ihn geprägt haben. Das fängt bei der Kindheit an. Wenn dann die Improvisation mit den anderen Schauspielern beginnt, wissen sie genau, was ihre Figur in bestimmten Situationen sagen würde.“

Auch für die Rolle der Grace in „Grasgeflüster“ dachte sich Blethyn eine Vergangenheit aus, die dieser leicht albernen Komödie um eine geprellte Witwe einen traurigen Unterton verleiht. Nichts als Schulden und eine Ex-geliebte hat der verstorbene Gatte ihr hinterlassen, jetzt versucht Grace ihren Hausstand mit einer Hanfplantage im eigenen Treibhaus zu erhalten. „Ihre ganze Ehe war ein Stück Fiktion. Ihr schönes und eingerichtetes Dasein hat in Wahrheit gar nicht existiert. Der Film erzählt die Geschichte einer Frau, die herausfinden muss, wer und was sie ist. Diese Entwicklung hat mich interessiert, nicht die lustige Geschichte, wie sie ihr Marihuana züchtet.“ Man nimmt ihr aber auch gerne die kiffende Seite der Figur ab. Hat sie es selbst schon mal probiert? „Von Method-Acting halte ich ohnehin nichts. Ich habe mal Haschplätzchen gegessen. Aber ich wusste es nicht, ich habe eins und noch eins gegessen und die folgende Nacht tief und fest geschlafen.“

Mit dem grünen Händchen sieht’s ähnlich aus: In „Grasgeflüster“ umhegt Brenda Blethyn liebevoll zunächst ihre Orchideenzucht und bringt später die Hanfpflänzchen innerhalb von kürzester Zeit prachtvoll zum Blühen. Seit diesem Film wird die Schauspielerin deshalb ständig zu Gartenausstellungen eingeladen. „Alle Leute denken, dass ich eine gute Gärtnerin bin, denn zufälligerweise sagte ich in einem Interview zu ‚Grasgeflüster‘ tatsächlich den Satz ‚Ach, ich genieße meinen Garten so‘. Aber damit meinte ich, in ihm zu sitzen. Jemand anderes macht die ganze Arbeit, während ich nur den Anblick genieße und meine Füße hochlege.“