Früher die Apo, heute Dauerwellen

„Jenseits von Mitte“, Teil 6: Gründe, nach Reinickendorf zu fahren. Das Märkische Viertel hat eine bewegte Geschichte. Einst gab es hier die meisten Bürgerinitiativen Deutschlands. Heute bietet „Coiffeur Margit“ die billigste Fußpflege im ganzen Bezirk

von KIRSTEN KÜPPERS

Reinickendorf hat schon die verschiedensten Leute angezogen. Das Gelände, auf dem heute das Märkische Viertel ragt, war nach dem Ersten Weltkrieg eine wilde Kleingartenkolonie. Aus den Gärtnern wurden Dauersiedler, aus den Lauben winterfeste Wohnhäuschen. Ende der 50er-Jahre standen auf dem Gebiet Behausungen, deren Standard von der Bretterhütte bis zum Zweifamilienhaus mit Garage reichte.

Dem Staat passte diese Kraut- und Rüben-Besiedlung nicht. Er wollte hier lieber ordentliche Hochhausbewohner. 1962 begann der Senat daher mit dem Bau des für 50.000 Einwohner geplanten Märkischen Viertels. Nicht nur wegen der steigenden Wohnungsnachfrage. Mit der an der Sektorengrenze gelegenen Hochhaussiedlung wollte man der DDR zugleich die Leistungsstärke des eingemauerten Westberlin beweisen. Auch aus diesem Grund mag der ursprüngliche Plan verworfen worden sein, einen Teil der Wohnungen mit Ofenheizung zu versehen.

Um Kinder vom Spielen auf den Baustellen abzuhalten, erhielt das Viertel 1967 den ersten Abenteuerspielplatz der Bundesrepublik. Die Mieter kamen überwiegend aus Altbauten und freuten sich über Innenklos und Balkons. Trotzdem fanden die Neureinickendorfer ihr Viertel hässlich. Sie nannten es „die graue Hölle“. Außerdem mussten sie ungewohnt hohe Mieten an die GeSoBau bezahlen. Manche praktizierten Mietboykott, andere schmissen Müll aus dem Fenster, demolierten Fahrstühle und kokelten Klingelknöpfe an. Die GeSoBau reagierte mit Rausschmiss oder Mieterhöhungen.

Bürgerinitiativen und Selbsthilfegruppen vermittelten. Nirgendwo sonst in Deutschland, schreibt der Historiker Alexander Wilde, habe es seinerzeit so viele von ihnen gegeben. Diese Form der Organisation brachte neue Bevölkerungskreise in den Bezirk. Viele der seit 1968 im Märkischen Viertel engagierten Sozialarbeiter und Studenten standen der außerparlamentarischen Opposition (APO) nahe. Das Viertel mit seiner mangelhaften Infrastruktur, sozialen Not und als brutal empfundenen Architektur schien ihnen Manifestation einer ungerechten Gesellschaft. Fast alle linken Gruppierungen Berlins entdeckten daher den neuen Stadtteil: Antiautoritäre Reformer links der SPD, klassenkämpferische Sozialisten, Trotzkisten, moskautreue Kommunisten, Maoisten und Mitglieder der späteren RAF.

Den Bewohnern ging es allerdings mehr um die Beseitigung der aktuellen Missstände denn um Politik. Sie profitierten zwar vom Aufbau der Mietervereine und Bürgerinitiativen durch die Linken, wollten den Klassenkampf jedoch nicht weiterführen. Während linke Studenten sich gerne in blauen Monteursanzügen proletarisch gaben, wünschten sich die meisten Einwohner ein sattes bürgerliches Leben. Immer wieder wurden die Studenten im Jugendclub von Rockern verprügelt. Nachdem die Wähler hier bei der Kommunalwahl 1971 auch noch zu 95 Prozent für die etablierten Parteien stimmten, schliefen die APO-Aktivitäten nach und nach ein.

Das ist lange her. Mittlerweile konnten ein Schwimmbad, eine Volkshochschule, eine Stadtteilzeitung, Grünflächen, eine Stadtbücherei, ein Kultursaal, ein U-Bahn-Anschluss, eine Image-Kampagne der GeSoBau und vor allem das große Einkaufscenter „Märkisches Zentrum“ die Bevölkerung mit ihrem Viertel weiter anfreunden und zum Bleiben verlocken. Jüngere Befragungen ergeben inzwischen zunehmend ein „Jetzt wollen wir hier nicht mehr weg“ seitens der Bewohner.

Auch die zahlreichen alten Frauen, die auf dem Platz im Einkaufszentrum in der Sonne sitzen, sagen, sie wohnen gerne hier. Viele von ihnen sind starke Raucherinnen. Sie scheinen den Aushang der katholischen Kirchengemeinde zu beherzigen: „Die Seele öfter baumeln lassen. Nicht nur im Urlaub.“

Das kann immer noch ein Grund sein, nach Reinickendorf zu fahren. Wer sich im Märkischen Viertel verwöhnen lassen will, geht am zugewachsenen Abenteuerspielplatz vorbei zu „Coiffeur Margit“. 25 Mark kostet dort einmal Fußpflege. Damit ist der kleine Laden am Senftenberger Ring 34b der billigste Anbieter dieser Dienstleistung in ganz Reinickendorf. Der Chef ist Lothar Schulz, Margit seine Frau. Schulz war früher Taxifahrer. Er vergleicht Füße mit Autoreifen. Reifen würden gewechselt, wenn sie kaputt sind. Füße nicht. Deswegen muss man sie pflegen. Eine professionelle Fußpflegerin massiert und cremt die Füße. Sie entfernt auch Hornhaut und schneidet die Zehennägel. „Danach läuft man hüpfiger und beschwingter“, verspricht Schulz.

Außerdem nennt sich der Salon auf seinem Ladenschild „Ihr Dauerwellenspezialist“. Die Preise für eine Dauerwelle rangieren zwischen 68 und 130 Mark. „Es gibt Kleinwagen und Mittelklassewagen“, erklärt Schulz die Preisunterschiede. Vor einem Besuch empfiehlt sich die Anmeldung. Coiffeur Margit hat noch ein Telefon mit Wählscheibe. Wenn es klingelt, ist das eher ein Rasseln.