Das Versagen der Aufsteiger

Die rot-grüne Regierung ist ratlos bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus. Kein Wunder: Ihre Politik widmet sich offenkundig nur den Erfolgreichen und Schönen. Im Stich gelassen fühlen sich alle, die durch den Rost der Modernisierung fallen. Eine Analyse dieses fatalen Misserfolgs – und seiner Alternativen

von EBERHARD SEIDEL

Ein leiser Abend im Juni. Zwei Dutzend Bürger sitzen im Foyer der Berliner Akademie der Künste, niedergeschlagen, sprachlos. Offenbar wirken die Bilder des Dokumentarfilms „Neustadt Stau – Der Stand der Dinge“ noch nach. Dessen Regisseur Thomas Heise hat ihnen schwer Verdauliches serviert.

Bilder aus Halle-Neustadt, einer ostdeutschen Trabantenstadt, so ruhig, so fremd, so unfassbar. Menschen kommen in dem Film zu Wort, die eines eint: Sie werden nicht gebraucht. Heute nicht, morgen nicht und schon gar nicht in ein paar Jahren. Und sie wissen: Sie sind zu unflexibel, zu schwerfällig für all die bunten und lukrativen Jobs der neuen Ökonomie.

Ein junger, pickeliger Mann mit Fascho-Haarschnitt sitzt auf einer Parkbank: Er könne nicht an einem Schreibtisch sitzen, er brauche Arbeit an der frischen Luft, meint er. Aber dort, auf den zahlreichen Baustellen Halles, gibt es schon lange keinen Platz mehr für ihn. Die Jobs, so der Filmemacher, sind an Polen, Portugiesen und Iren vergeben.

Die Berliner Republik, das neue Deutschland mit seinen Börsengängen und leistungswilligen Start-up-Unternehmern ist für die Menschen in Halle-Neustadt weit entfernt. Die Neue Mitte? Hier ist sie unbekannt. Die demokratischen Parteien? Sie liefern keine Antworten auf die Nöte der Menschen. Also suchen sie ihre eigenen. Der eine säuft, der andere junkt . . . Und ein paar klammern sich an das, was ihnen bleibt und was ihnen niemand nehmen kann: ihr Deutschsein.

Die Gesprächsrunde in der Akademie der Künste ist ratlos. Ihnen allen dämmert, gerade einen Blick in die verdrängten Abgründe der Republik geworfen zu haben. Und der Boden dort ist unfruchtbar für Aufklärung, Hauruck-Antifaschismus und Toleranzappelle. Sie werden nichts in Halle-Neustadt bessern, weder den Zustand der Häuser noch den Arbeitsmarkt noch die Menschen.

Zwei Monate später. Wieder diskutieren die gebildeten und aufgeklärten Bürger. Nun in ihren Feuilletons, ihren Talkshows, ihrem Parlament. Dieses Mal sind es viele, und es wird laut. Denn jetzt weiß man, was man will. „Hau weg den braunen Scheiß“ lautet die Parole, die man natürlich feiner formuliert.

Seit Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, Außenminister Joschka Fischer und Bundeskanzler Gerhard Schröder ihr Schweigen zum Rechtsextremismus beendet haben, wird ganz ohne Tabus einmal durchgedacht, was auf die Schnelle helfen könnte: Verbot der NPD? Verbot von Hass-Seiten im Internet? Schärfer, schneller, härter strafen? Mehr Knast? Mehr geschlossene Heime? Mehr Bildung? Mehr Arbeit? Mehr Aufklärung? Weniger Fernsehen?

Mäkeleien über diese atemlose Suche nach Lösungen sind unangebracht. Aber vergessen wir nicht, dass ein Teil jener, die heute angewidert sind von neonazistischer Gewalt, vor zwei Jahren Martin Walser während der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels mit Ovationen huldigte, als dieser in seiner Rede unter anderem meinte: All dies Gerede über rassistische Straßengewalt in Ostdeutschland sei journalistische Übertreibung.

Zugegeben, jeder macht Fehler, und man kann sich seine Mitstreiter nicht immer aussuchen. Dazu sind Rassismus und Rechtsextremismus eine viel zu ernste Sache. Sie bergen mehr Zerstörungskraft in sich als ein Dutzend defekter Atomkraftwerke, wie das an Genoziden und Vertreibungen so reiche 20. Jahrhundert gezeigt hat.

Ja, es ist zu begrüßen, dass die rot-grüne Regierung den Kampf gegen rechts zur Chefsache erklärt hat. Ja, die derzeitige Bundesregierung ist anständiger als die alte. Die hatte niemals Skrupel, soziales und ökonomisches Krisenmanagement mit Hilfe rassistischer Slogans zu betreiben.

Ja, die Kohl-Regierung hat das Land gespalten – in Deutsche und Ausländer. Sie ist mitverantwortlich für die Explosion rechter Gewalt und fremdenfeindlicher Einstellungen während des vorigen Jahrzehnts.

Gerhard Schröder ist nicht Helmut Kohl. Aber die Regierenden sind nicht nur für das verantwortlich, was sie tun, sondern auch für das, was sie unterlassen. Deshalb trägt die heutige Regierung viel mehr Verantwortung für die rassistische Gewalt und fremdenfeindliche Stimmung im Land, als sie sich eingestehen will.

Warum entdeckte die Bundesregierung erst mit zweijähriger Verzögerung, dass es nicht nur auf dem Balkan ethnische Vertreibung gibt, sondern auch mitten in unserem Land so genannte national befreite Zonen? Es war kein Versehen, keine Unachtsamkeit, keine Frage der Prioritäten eines ambitionierten Regierungsprogramms. Die Versäumnisse entspringen dem Selbstverständnis der Regierung.

Vom ersten Tag an stellte Kanzler Schröder klar: Ich bin ein Gewinner. Vergesst den schmutzigen Rest der Republik. Und predigte stattdessen Optimismus, Fortschrittsglauben, Modernisierung. Umworben war damit eine neue Mitte, von der immer noch niemand genau weiß, wer sie eigentlich ist. Gewiss ist nur: Die Reinigungsfrau aus Wernigerode, der Gabelstaplerfahrer aus Herne, die Langzeitarbeitslose aus Bremerhaven, der Bauhelfer aus Rostock – sie gehören nicht dazu.

Während Schröder und seine Mitstreiter damit beschäftigt waren, der Welt zu beweisen, dass sie in den Vorzimmern der Konzernetagen nicht über die Teppichkante stolpern, wurden die Wähler in den subproletarischen Vierteln einstiger Hochburgen der Sozialdemokratie, wie zum Beispiel Duisburg, zur Minderheit. Viele sind resigniert und wenden sich enttäuscht von der SPD ab, viele sympathisieren mit rechts, viele pflegen ihr Ressentiment gegen den Türken von nebenan. Die Erfolge der Schröder-Regierung in der Steuerreform, der Konsolidierung des Haushaltes und der Verbesserung des Investitionsklimas am Wirtschaftsstandort erreichen die Wohnzimmer im Gelsenkirchener Barock nicht.

Und die Grünen? Mit Regierungsantritt hatten sie nichts Eiligeres zu tun, als Gerhard Schröder hinterherzutraben und ihre Ansprüche als Bürgerrechtspartei über Bord zu werfen. Rezzo Schlauch, Jürgen Trittin, Cem Özdemir, Joschka Fischer, Gunda Röstel – bei allen Unterschieden im Temperament eint sie eines: Sie tun alles dafür, damit nur nicht der Eindruck entsteht, sie würden für eine sozial gerechtere Gesellschaft eintreten. Die Beschäftigung mit Armut, mit den Verlierern und Ausgegrenzten ist altbacken, wollsockig und hoffnungslos links.

Mit vereinten Kräften hat Rot-Grün an den Rändern der Gesellschaft ein Vakuum geschaffen. Dort, wo die Union, populistisch wie sie nun einmal ist, auf die Ängste der Menschen vor Globalisierung, Einwanderung, der undurchschaubaren EU-Bürokratie und sozialem Abstieg mit rassistisch konnotierter Identitätsstiftung reagierte, hat Rot-Grün bislang nichts zu bieten. Die Antworten werden den Parteien rechts der Union überlassen. Und der PDS, die im Osten bislang Schlimmeres verhinderte. Ihr Festhalten an alten sozialdemokratischen Rezepten der ökonomischen Krisenbewältigung (staatliche Nachfragepolitik, Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums) nährt zumindest die Hoffnung, es gebe ein Gegenmittel gegen die Macht des Kapitals.

Angesichts der rassistischen Morde und der Flut von Berichten über die Straßengewalt ist es nicht sehr populär, über die sozialen und gesellschaftlichen Ursachen des Rechtsextremismus zu sprechen. Die Tageslosung lautet: „Wehrhafter Antifaschismus!“ Rassismus, Rechtsextremismus und völkisches Denken lassen sich mit Polizei, Strafverfolgung, Toleranzkampagnen und Aufklärung vielleicht eindämmen, aber nicht wirkungsvoll bekämpfen. Das wussten bereits Konrad Adenauer und vor allem Willy Brandt. Beide verstanden von Zivilisierung und Demokratisierung der deutschen Gesellschaft mehr als ihre Nachkommen.

Nach dem Ende des Dritten Reiches wurden die (West-)Deutschen nicht deshalb zu Demokraten, weil die Alliierten sagten: „Leute, die Demokratie ist dufte.“ Zur Erinnerung: Ende der Vierzigerjahre war noch jeder Zweite davon überzeugt, dass der Nationalsozialismus eine gute Sache war. Das änderte sich mit dem wirtschaftlichen Erfolg der Bundesrepublik und der Botschaft von Konrad Adenauer und Ludwig Erhard: Demokratie schmeckt nicht nur besser als Volksgemeinschaft, sie rechnet sich sogar.

Und Willy Brandt konnte die Bauarbeiter, Facharbeiter, Kleinbauern, Schneiderinnen, Krankenschwestern und Handwerker mit seiner Forderung nach „Mehr Demokratie wagen!“ überzeugen, weil er glaubhaft vermittelte: Wir brauchen euch, eure Arbeit ist ehrenwert, ihr werdet am gesellschaftlichen Reichtum beteiligt. Eure Kinder, nicht nur die des Bürgertums, sind an den Gymnasien und Hochschulen willkommen, wir ermöglichen ihnen das Studium, egal wie wenig ihr verdient. Ihr werdet mehr Rechte und Mitbestimmung in den Betrieben und an euren Arbeitsplätzen haben.

Es war eine Botschaft, die den Menschen in jeder Hinsicht mehr Partizipation in Aussicht stellte. Sie war erfolgreich und drang selbst in die traditionellen Hochburgen des deutsch-nationalen und völkischen Denkens vor, wo NPD, CSU und andere nationale Widerstandsgruppen mit aller Macht gegen die Ostpolitik der Brandt-Regierung mobilisierten.

Von einer solchen solidarischen Perspektive hat sich die bundesdeutsche Gesellschaft mit der Regierungszeit von Helmut Kohl weit entfernt. Der Anteil der Kinder aus einkommensschwachen Familien an den Universitäten hat sich in den zurückliegenden zwanzig Jahren nahezu halbiert. Wer Hilfe zu seinem Lebensunterhalt benötigt, steht unter dem Verdacht, Sozialschmarotzer zu sein. Und längst reklamiert das Bürgertum wieder ganz unverhohlen das Recht auf ungebremste Reichtumsakkumulation.

Wer auf diese Entwicklungen aufmerksam macht, gilt als Sozialromantiker. In Westdeutschland reagierten die „Wendejugend“ und die Modernisierungsverlierer aus der Arbeiterschaft, die sich von Kohls Losung „Leistung muss sich wieder lohnen“ ausgeschlossen fühlten: Sie wählten seit Mitte der Achtzigerjahre verstärkt und demonstrativ rechtsextrem: In Berlin, Bremerhaven, Baden-Württemberg oder Schleswig-Holstein.

Seit der Wiedervereinigung spitzt sich die Lage zu. Zehn Jahre nach dem Fall der Mauer stößt die westliche Werte- und Wirtschaftsgemeinschaft vor allem bei der Jugend im Osten auf immer größere Skepsis. Bei der letzten Landtagswahl in Sachsen-Anhalt, dieser deindustrialisierten Region mit der höchsten Konzentration von Menschen, für die es keine berufliche Perspektive mehr gibt, wurde die DVU mit rund dreißig Prozent Stimmenanteil zur stärksten Partei unter den männlichen Erstwählern.

Diese Verbindung von Sozialprotest und völkischem Hass, diese Kombination von Antikapitalismus, Rassismus und Antisemitismus ist eine Herausforderung für die Demokratie. Zumindest in Sachsen-Anhalt hat ein relevanter Teil der jungen Wählerschaft die Systemfrage gestellt. Gleichzeitig haben diese Wähler ins Gedächtnis zurückgerufen: In Deutschland gibt es seit rund zwanzig Jahren ein stabiles Potenzial von fünfzehn bis zwanzig Prozent Rechtsextremisten. Wie viele von ihnen dann tatsächlich bereit sind, eine entsprechende Partei zu wählen, hängt davon ab, wie es den demokratischen Parteien gelingt, sie einzubeziehen. Willy Brandt war in dieser Hinsicht erfolgreich. Helmut Kohl bahnte den Rechtsextremen den Weg in die Parlamente.

Bislang gelang es der rot-grünen Regierung nicht, diese Entwicklung umzukehren. Und sie hat bis heute nicht den Hauch einer Antwort darauf geliefert, wie sie die rechtsextremen Jungwähler für das demokratische Spektrum zurückgewinnen will.

Ein wenig Hoffnung bleibt. Vom kommenden Montag an wird Kanzler Schröder seine zehntägige Tour durch die Krisengebiete Ostdeutschlands antreten. Hier könnte er lernen, dass sein demonstrativer Zukunftsoptimismus an der Lebenssituation der Menschen vorbeizielt. Hier könnte er ein Gespür entwickeln, das sein Parteifreund, Niedersachsens Ministerpräsident Sigmar Gabriel, bereits hat. Im Spiegel bekannte er: „Wir müssen zugeben, dass sich Demokratie immer mehr als kaltes Projekt darstellt für die, die nicht zu den Gewinnern gehören. Für Menschen, die sich ausgegrenzt fühlen, sind unsere Angebote zur Orientierung leider nicht eben üppig.“ Sollte Gerhard Schröder sich dieser Herausforderug stellen, hat er gute Chancen, zu einem Kanzler zu werden, an den man sich ebenso gern erinnert wie an Willy Brandt.

EBERHARD SEIDEL, 44, ist Leiter des Ressorts Inland der taz. Das Thema Rechtsextremismus beschäftigt ihn, seit ein Nachbar 1969 zu ihm meinte: „Ihr Gammler gehört vergast!“