Wladimir Putin auf Tauchstation

Es hat gedauert, bis der Kremlchef mit den schlechten Nachrichten vor das Volk trat. Allerdings brach er mit der russischen Tradition, die Interessen des Staates höher als Menschenleben zu bewerten

MOSKAU taz ■ Mit Erschrecken stellen die Russen in diesen Tage fest, dass auch ihr neuer Kremlchef Wladimir Putin, der sich dem Volk als kämpferischer Mann der Tat verkauft hatte, sein Herz in der Hose trägt. Vier Tage brauchte der Präsident, bis er es wagte, mit der tragischen Nachricht von dem gesunkenen U-Boot „Kursk“ vor das Volk zu treten. Indes war auch seine Botschaft unterkühlt – wie die Barentssee. Symbolische Politik beherrscht der Oberkommandierende der Streitkräfte. Im Wahlkampf reklamierte er noch, als Präsident für alles und jedes Verantwortung tragen zu wollen. Kaum sah er sich indes mit einer größeren Schlappe konfrontiert, tauchte auch Putin – wie der senile Boris Jelzin – erst einmal ab. Anscheinend war der drohende Tod von mehr als hundert Seeleuten eine Woche lang kein Grund, den Urlaub am Schwarzen Meer zu unterbrechen. Erst gestern erwog Putin, nach Moskau zurückzukehren.

Selbst der Vorsitzende des Sicherheitsrates, Sergej Iwanow, wurde nicht aus den Ferien zurückgerufen. Stattdessen erhielt Vizepremier Ilja Klebanow – aus der zweiten Garde – den Befehl, an der stürmischen Nordküste die tagelang verschleppte Rettungsaktion zu leiten. Das Vorgehen ist durchsichtig: Schlägt der Einsatz fehl, sind die Schuldigen nicht weit. Zumindest so weit funktioniert auch die Vertikale der Macht, mit deren Straffung Putin versprach, in Russland Ordnung zu schaffen. Reicht es auch zu mehr?

Enthalten Gerüchte der staatlichen Medien ein Körnchen Wahrheit, Putin sei spät und unvollständig von den Militärs informiert worden, so entlastet ihn das bestenfalls moralisch. Das Image eines mit harter Hand regierenden und entschieden agierenden Politikers hat Schaden genommen. Putins Versuch, die innenpolitische Erneuerung mit den so genannten Kraftministerien, Verteidigungs- und Innenministerium sowie Geheimdienst, als wichtigsten Stützen anzugehen, hat noch keinen Erfolg gezeitigt. Denn auch die historische Mission im Kaukasus bescherte bisher statt Frieden in Tschetschenien nur eine neue Welle der Gewalt. Es wäre an der Zeit, die Strategie und Rolle der Sicherheitsorgane zu überdenken.

Mit Kursk verbanden die Russen bisher einen ruhmreichen Sieg. 1943 stoppten die Sowjets in der Kursker Panzerschlacht den Vormarsch Hitlers. Auch für Putin steht eine Entscheidungsschlacht an. Nutzt er die Tragödie in der Barentssee, um die Militärs an die Kandare zu nehmen und jene zu entlassen, die sich seit zehn Jahren erfolgreich gegen eine Armeereform stemmen? Beweist er den Mut, den Direktoren des militärisch-industriellen Komplexes die Stirn zu bieten?

Moskau hat kein Geld für einen hypertrophen Militärapparat, der sich an die Illusionen einer aufzufrischenden Supermachtrolle klammert. Nicht zuletzt führten materieller Mangel und Mangel an Sorgfalt zu der Katastrophe. Die Militärs verschärften die Lage unterdessen noch. Vier Tage lang behaupteten sie, technisch und intellektuell in der Lage zu sein, die Mannschaft retten zu können. Bloße Hinhaltetaktik.

Putin akzeptierte, wenn auch spät, ausländische Hilfe und verletzte den heuchlerischen Stolz der Militärs. Er brach mit einer russischen Tradition, die Interessen des Staates bisher höher bewertete als Menschenleben. Ein Signal? Vielleicht.

Zusammen mit dem Flugzeugträger „Admiral Kusnezow“ sollte die „Kursk“ im Herbst im Mittelmeer Russlands internationalen Geltungsanspruch demonstrieren. Nun ist der Stolz der Kriegsmarine bei Bergungsarbeiten im Einsatz. Eine vieldeutige Symbolik. Zeit für den Kremlchef, die nötigen Konsequenzen zu ziehen: Erst zu Hause klar Schiff machen, bevor es auf die Weltmeere hinausgeht. KLAUS-HELGE DONATH