Der Untergang der Illusionen

Gerade hatte die russische Admiralität eine groß angelegte Imagekampagne gestartet, da geriet sie selbst ins Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik

Aus Moskau BORIS SCHUMATSKY

Auf dem Moskauer Lenin-Prospekt stehen in einer Reihe mit Reklametafeln von Autoherstellern überdimensionale Billboards mit angreifenden Schlachtschiffen. Ausgerechnet in diesem Sommer hat die russische Marine eine große Werbeaktion gestartet: Graue Kreuzer und Zerstörer mit feuerbereiten Raketenabschussrampen sollen an eine Waffengattung erinnern, die während des Landkriegs in Tschetschenien nahezu vergessen worden war. Der Verkäufer im Kiosk neben einer Reklame der Marine scheint vom Kriegsgerät schwer beeindruckt: „Wenn unser modernstes Kampfschiff untergeht, sollen es unsere Leute sein, die es bergen“, sagt der Mittfünfziger. „Die Nato-Experten geben nur vor, unsere Jungs aus dem U-Boot retten zu wollen. In Wirklichkeit sind sie hinter unseren Militärgeheimnissen her. Manchmal muss die Militärführung schwierige Entscheidungen treffen, und jeder Soldat sollte bereit sein, sein Leben für die Heimat zu opfern.“

Knapp eine Woche nach der Katastrophe des Atom-U-Boots „Kursk“ werden kritische Stimmen in Russland immer lauter. Zunächst konnte die Marineleitung die Öffentlichkeit überzeugen, dass Geheimhaltung wichtiger als die schnelle Rettung der Mannschaft sei. Das staatliche Fernsehen ORT sendete ständig Statements der Militärs, alle Rettungsgeräte arbeiten vor Ort, und keine Seemacht besitzt eine bessere Ausrüstung. „Die Tragödie mit dem Atom-U-Boot schadet nicht nur der Marine, sondern auch dem Image Russlands als einer atomaren Großmacht“, schrieb die liberale Tageszeitung Segodnja.

Eine erste Kritik, die in Russland Widerhall fand, kam aus der Ökobewegung. Der Umweltschützer Alexej Simonow warf der Marine vor, sie hätte gegen das Gesetz über Umweltinformationen verstoßen, wonach alle Details über Katastrophen bekannt gegeben werden müssen, wenn diese die Umwelt oder Menschen bedrohen. Die Besatzung des U-Boots rückte erst drei Tage nach dem Unglück ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Wer jedoch an Bord war, war zunächst unklar: Militärgeheimnis.

Und so versuchte das „Komitee der Soldatenmütter“, Näheres herauszufinden. Doch weder die Marine noch der Militärkommissar von Kursk gaben Namen bekannt. Die NGO recherchierte und stellte selbst eine Liste der Mannschaftsmitglieder zusammen.

Eltern aus ganz Russland machten sich daraufhin sofort auf den Weg zum Unglücksort. Zuvor hatten die örtlichen Regierungen und die Militärverwaltungen sie noch unter Druck gesetzt, stillzuhalten. Das änderte sich erst, nachdem die Stimmung in Russland umgeschlagen war. „Das sind sehr schöne Jungs, die beste Erbmasse“, räsonierte der Gouverneur von Kursk, Alexander Ruzkoj, am Donnerstag, als sich die Eltern auf den Weg machten. Sie werden erst heute in Murmansk sein, zur gleichen Zeit wie das britische Rettungs-U-Boot und nach Meinung von Pessimistien zu spät, um ihre Söhne noch lebend zu sehen.

Auch der Sohn von Valentina ist an Bord der „Kursk“. Doch sie ist zu krank für die Reise, auch Hoffnung hat sie keine mehr. Neben dem Foto ihres Sohns hat sie eine Ikone aufgestellt. Dienstagnacht ist das Heiligenbild umgefallen. Das war die Nacht, als die Klopfsignale aus dem U-Boot verstummten. Seitdem glaubt Valentina, dass ihr Sohn tot ist.

Die russisch-orthodoxe Kirche reagierte erst am Donnerstag auf die Katastrophe, mit Gottesdiensten in allen Kirchen Moskaus. Zuvor hatte sie alle öffentlichen Gesten vermieden, völlig im Einklang mit der Propaganda des Kremls, die Putins Imagemaker Gleb Pavlovskij entworfen hatte. Danach soll Putin sich aus der öffentlichen Tagespolitik zurückziehen und die Regierung die Verantwortung für alle unpopulären Maßnahmen übernehmen.

Der Unfall der „Kursk“ gab Putin erstmals Gelegenheit, dem Rat seiner Grauen Eminenz zu folgen. Ohne Erfolg. Mit dem Unfall ist das neue Selbstbild von Großmachtillusionen und russischem Nationalstolz untergegangen. Russland ist wieder, wie bei Jelzin, auf seinen „potenziellen Gegner“ angewiesen.

Die Reaktion der Öffentlichkeit auf den Unfall zeigt, dass sie Putin anders betrachtet. Die Zeitung Nesawizimaja Gazeta erinnert an das Blutvergießen in der Zeit seines Kampfs um die Macht und der als Premier: Tschetschenien, Dagestan, Anschläge, und die U-Boot-Katastrophe. „Es ist eine beängstigende typologische Reihe“, so das Fazit.