Das Fest der Attentate

aus San Sebastián DOROTHEA HAHN

„Mama“, flüstert das Mädchen, „komm jetzt. Du weißt doch gar nicht, mit wem du es zu tun hast.“ Die Mutter hat Fremden ins Spanische übersetzt, was an den Gittern vor der Kirche San Vicente prangt: „Redet Baskisch. Rettet das Euskera.“ „Quatsch“, hat sie gebrummelt, „wo doch heute jeder so reden kann, wie ihm der Schnabel gewachsen ist.“

Die Tochter zerrt sie weg. Taucht mit ihr in der Menschenmenge unter, die sich mit biergefüllten Plastikbechern in der Hand und Spanisch schnatternd durch die Gassen der Altstadt von San Sebastián schiebt. Über ihnen flattern Hunderte von Spruchbändern. Auf Baskisch verlangen sie nach „Independencia“, Unabhängigkeit, und nach „Zusammenlegung der baskischen Gefangenen in Euskal Herria, dem spanischen und französischen Baskenland. Auf Englisch mahnen sie: „Touristen – ihr seid hier nicht in Spanien. Dies ist Baskenland.“ Eine Karte soll das belegen. An der Stelle, wo die Grenze zwischen Spanien und Frankreich verläuft, steckt eine Ikurriña, die rotweißgrüne baskische Fahne.

Eroberung der Straße

Die „Aste Nagusia“, die große Woche, ist Mitte August der festliche Höhepunkt des Jahres in San Sebastián. Jeden Tag Feuerwerk, jeden Tag ziehen Giganten mit luftgefüllten Tierdärmen durch die Altstadt und hauen sie mit lautem Knallen auf Kinderpopos und Damenhintern. Die Stierkampfarena ist seit Monaten ausgebucht, ebenso die Hotelzimmer in dem 180.000-Einwohner-Ort. Allmorgendlich liegen obdachlos gebliebene Touristen auf dem kilometerlangen Sandstrand La Concha.

Das Seebad San Sebastián wird heute von einer großen Koalition aus Sozialdemokraten und Konservativen regiert. Die konservativen Nationalisten von der PNV, die seit über 20 Jahren das spanische Baskenland regieren, sind hier in der Minderheit. Und die radikalen Separatisten von der EH – einem Bündnis, in dem die treibende Kraft die Herri Batasuna ist und das sich nie von den Attentaten der ETA distanziert hat – führen in dem sandfarbenen Rathaus am Uferquai mit ihren 13 Prozent Wähleranteilen ein Schattendasein. Doch die Straße gehört ihnen.

Seit der Verfassung von 1978 und dem Autonomiestatut haben die radikalen Nationalisten, die Unabhängigkeit wollen und Gewalt nicht verurteilen, Schritt für Schritt an Terrain gewonnen. Sie vereinnahmten die baskischen Farben, die Lieder und sogar die Sprache für ihre Sache. Vor ein paar Jahren erreichten die Steinewerfer, dass die sozialdemokratischen und konservativen Lokalpolitiker ihre Teilnahme am alljährlichen Festzug vom Rathaus in die Kirche absagten.

Am Dienstagmorgen verhindern 100 „patriotische“ Militante, die mit erhobenen Fäusten die baskische Hymne „Eusko Gudariak“ singen, dass die spanische Flagge über dem Rathaus gehisst wird. Über San Sebastián soll nur die Ikurriña wehen, die am Ende des 19. Jahrhundert von jenen Gebrüdern Arana entworfen wurde, die auch die PNV gründeten und ihr die Grundidee des baskischen Nationalismus mit auf den Weg gaben: den Unterschied zwischen der baskischen und der romanischen „Rasse“.

Zehn Minuten nach Mitternacht ist der Bus Nummer 26 in der Nacht zu Mittwoch bis auf den letzten Platz besetzt. Nach dem Ende des Feuerwerks machen sich vor allem Familien mit kleinen Kindern auf den Heimweg in die Vorstädte. Eine Gruppe maskierter junger Männer mit Steinen in der Hand stürmt den Bus. „Hurensohn“, schreien sie den Fahrer an. „Raus hier“, brüllen sie nach hinten. Der Fahrer, ein besonnener Mittdreißiger, bittet sie, abzuwarten, bis alle Passagiere ausgestiegen sind. Da zerschmettert ein Stein sein Nasenbein. Momente später steht sein Vehikel in Flammen. Es ist der sechste Bus der städtischen Verkehrsgesellschaft von San Sebastián, der in diesem August in Flammen aufgeht. Der 19. dieses Sommers im Baskenland.

Miguel Alonso hat bereits sechs Überfälle im Dienst erlebt. Mal zwangen Jugendliche ihn, seinen Bus quer zu stellen, um eine Barrikade im Verkehr zu bilden, mal musste er aussteigen und zusehen, wie sein Arbeitsplatz verbrannte. Zwei mal startete der Busfahrer durch und überfuhr bei der Flucht beinahe die Angreifer. „Das ist ein altes Problem“, sagt der 54-Jährige: „Jedes Mal, wenn sich die Situation anspannt, bekommen wir das zu spüren. Wir Busfahrer sind dabei nur ein Symbol. Es geht darum, Angst und Chaos in der ganzen Gesellschaft zu verbreiten.“

Der Betriebsrat, in dem auch drei nationalistische Gewerkschaften sitzen, hat den Busfahrern empfohlen, bei Überfällen keinen Widerstand zu leisten. Bei der baskischen Polizei hat er um Sicherheitseskorten für die Nächte gebeten. Und für den nächsten Überfall hat er einen Streik angekündigt. Harte Urteile für die Angreifer verlangt er erst gar nicht. Fast immer sind es strafunmündige Minderjährige. „Der Nationalismus“, sagt Betriebsratsmitglied Javier Albéniz, „ist eine große Dummheit. Bei uns könnte sie verdammt böse enden.“

Radikale nationalistische Jugend

In der Sprache der radikalen nationalistischen Jugend gehören Überfälle wie die auf die Busse, in die Kategorie des „Kale Barroka“, des Straßenkampfs. Die Führer der ETA-Nachwuchsorganisation Haika nennen das „spontane Wutausbrüche gegen den spanischen Staat“. Allerdings treten diese immer dann auf, wenn die ETA das Baskenland und den Rest Spaniens mit Attentaten überzieht, und sie lassen nach, wenn die ETA einen „Waffenstillstand“ dekretiert.

San Sebastiáns sozialdemokratischer Bürgermeister Odon Elorza ist einer der wenigen nicht nationalistischen Politiker, der trotz der Attentatswarnungen des Innenministeriums in diesem Sommer im Baskenland geblieben ist. Der 45-Jährige, der von Leibwächtern begleitet wird, seit sein konservativer Konkurrent im Wahlkampf 1995 in einer Kneipe in der Altstadt von San Sebastián erschossen wurde, nennt die Angriffe auf das öffentliche Eigentum „weder rechts noch links, sondern völlig unsinnig“. Er fügt hinzu: „In diesem Land wundert einen fast gar nichts mehr.“

Der junge Mikel Azurmendi fühlte sich dazugehörig, als Ende der 50er-Jahre Studenten und Geistliche in Bilbao die „Euskadi ta Askatasuna“ – Baskenland und Freiheit – gründeten, um für die Rechte der Basken und gegen den Diktator Franco einzutreten. Während der Vorbereitung des ersten Mordes – die Autobombe gegen Francos Vize Carrero Blanco – verließ Azurmendi die ETA. Knapp 800 ETA-Morde später gründete er 1993 zusammen mit anderen Intellektuellen das „Forum von Ermua“, das sich seit der Entführung und Hinrichtung des 29-jährigen Lokalpolitikers aus Ermua, Miguel Ángel Blanco, gegen Gewalt und für den Dialog einsetzt.

Am Mittwoch der „Aste Nagusia“ des Jahres 2000 wirft der bekannte Anthropologe an der Universität von San Sebastián das Handtuch. Am Tag, nachdem die Polizei eine an seiner Haustür befestigte Bombe entschärft hat, gibt er bekannt, dass er das Baskenland in Richtung USA verlässt. „Die Luft hier ist unerträglich geworden für freie, kritisch denkende Menschen. Der Ideenstreit ist unmöglich geworden“, sagt Azurmendi, der seit Monaten Morddrohungen bekommt: „Viel zu viele haben vor den Vermummten kapituliert: Priester, Professoren, Politiker, Richter.“

Die Philosophin Cristina Cuesta hat sich nie unterkriegen lassen, seit die ETA 1982 ihren Vater ermordete. Seit 1986 ist sie in Friedensgruppen aktiv, geht für Verhandlungen und gegen die Einbeziehung von Terroristen auf die Straße. In diesem Jahr hat sie ein Buch mit dem programmatischen Titel „Contra el Olvido“ („Gegen das Vergessen“) veröffentlicht, in dem Angehörige von ETA-Opfern darüber berichten, wie sie nach dem Mord von ihrer Umgebung geschnitten wurden. Cuesta nennt diese unterschwellige Sympathie vieler Basken mit den Etarras „den zweiten Mord.“

In diesem Sommer ist die 38-Jährige „richtig depressiv“ geworden. Sie sieht „kein Vorankommen unter den Demokraten“. Von den Politikern der großen Parteien fühlt sich die Sprecherin der Ortsgruppe der nationalen Anti-ETA-Bewegung „Basta Ya“ allein gelassen. „Bei uns gibt es viele verschiedene Ideen“, versucht sie, die Kakophonie der Demokraten zu erklären, „bei denen herrscht einheitliches Denken vor. Sie sind totalitär und autoritär.“

Die 200 jungen Leute marschieren in dicht geschlossenen Reihen in der Nacht zu Donnerstag durch die Altstadt. Das große Transparent in den baskischen Farben tragen sie vor sich her. „Lasst die baskische Jugend in Ruhe“, skandieren sie mit erhobenen Fäusten. Und: „Es lebe die ETA.“ Die Ältesten in dem Block sind Anfang 20. Manche haben den Stimmbruch noch vor sich. In ihrer 40-jährigen Geschichte hat die ETA selten so viel Sympathie bei jungen Leuten gehabt.

Die Menschenmenge in den Gassen drückt sich an Mauern und in Hauseingänge, als ihr die Demonstranten engegenmarschieren. Ein junges Mädchen macht eine brüske 180-Grad-Drehung. Eine Mutter breitet schützend die Arme vor den Kindern aus. Niemand sagt ein Wort. Gegen Mitternacht löst sich die Demonstration in Grüppchen auf, die in der Menschenmenge auf der Plaza de la Constitución untertauchen.

Eine Kneipe als Hauptquartier

Die „Herriko Taberna“ in der Juan-de-Bilbao-Straße in der Altstadt ist das Hauptquartier der radikalen nationalistischen Jugend von San Sebastián. Auf dem Tresen stehen Sparschweine für die verschiedenen Kultur- und Menschenrechtsgruppen im Dunstkreis der ETA. Fotos von „politischen Gefangenen“ lehnen an Flaschen. Aus großen Lautsprecherboxen dröhnt Hardrock auf Englisch und Spanisch. Neben Alkohol vertreiben die Barmänner nationalistische Devotionalien wie Ikurriñas – T-Shirts mit dem ETA-Logo: einer Axt und einer Schlange – und Videos von jungen Menschen, die Fahnen schwingend durch eine grüne Berglandschaft ziehen und baskische Volkslieder singen. Rote Sterne sollen daran erinnern, dass die Bewegung sich als „links“ versteht.

„Ihr arbeitet doch nicht etwa für die Bullen?“, fragt ein junger Typ mit einem Ohrring und mehreren grün gefärbten Haarsträhnen. Die Fremden haben ihn um die Übersetzung eines baskischsprachigen Transparents gebeten, das vor der Taverne flattert. Dann klopft er ihnen kumpelhaft auf die Schultern: „Ich mach bloß Scherze.“