„Wir sind doch nur Dreck“

Unter der scheinbar resignativen Oberfläche herrschen in Murmansk Wut, Enttäuschung und Aggressivität

aus Murmansk KLAUS-HELGE DONATH

Der Offizier hält das Namensschild auf Bauchhöhe. Das Gesicht ist versteinert, die Haltung verrät Angst, seine Hände zittern. Zwei Offiziere der russischen Nordflotte warten auf dem Flughafen in Murmansk auf die Familie von Tatjana Popowa. Die Popows sind zu dritt angereist. Vater, Mutter und die Schwiegertochter. Das acht Monate alte Baby hat sie zu Hause gelassen in Kaluga, zweihundert Kilometer südlich von Moskau.

Tatjana Popowa hofft noch, ihren 27-jährigen Sohn Alexander, Offizier auf der „Kursk“, lebend mit nach Hause nehmen zu können. Mutter Popowa hat den ganzen Flug von Moskau aus geschluchzt. Noch hat sie Grund zu hoffen, denn die Marine hält mit der traurigen Gewissheit zurück. Sie fürchtet die Wahrheit wie die Mutter die Todesnachricht. Aufschub für beide Seiten. Alexanders Vater unterdrückt sein Leid. Gerne würde er noch hoffen. Doch er kennt die Abgründe der Armee, schließlich hat er selbst gedient.

Mauer aus Scham oder Zynismus

Die Reisekosten übernahm der Verwaltungsbezirk Kaluga. Tagelang hatte die Familie versucht, über die Hotline der Marine etwas Genaueres über das Schicksal der Mannschaft zu erfahren. Glück hatte, wer überhaupt durchkam. „Sie haben nur gesagt, wir sollen herkommen“, meint Popow teilnahmslos.

Eine Verschwörung des Schweigens herrscht in Murmansk. Kontakte mit den Angehörigen der Seeleute sind nicht erwünscht. Man sammelt sie sofort ein und bringt sie in die geschlossene Garnisonsstadt Widjajewo, eine Autostunde von Murmansk entfernt. Dennoch wahren die Offiziere, die die Popows in Empfang nehmen, Anstand und schirmen die Familie nicht gleich ab. Neunzig Sekunden lassen sie die Popows gewähren, bevor sie sie behutsam hinausschieben. Ein stiller Protest rangniedriger Militärs, die wissen oder zumindest ahnen, was schief gelaufen ist und wo die Schuldigen zu suchen sind.

Auf Vater Pawlow, dessen Sohn Nikolai ein einfacher Matrose ist, wartet niemand. Pawlow, ein hoch gewachsener Mann mit schwarzen Fingernägeln und braungegerbter Lederhaut, hält eine winzige Plastikreisetasche in den Bärenpranken, mit der er wohl auch zur Arbeit geht. Hals über Kopf muss er sich ins Flugzeug gesetzt haben. Nicht einmal eine warme Jacke hat er auf die Reise von Woronesch an den Polarkreis mitgenommen. Neun Grad zeigt das Thermometer in Murmansk. Pawlow ist schweigsam. Nur so viel: er reise auf eigene Kosten. Für die gemeinen Soldaten hatte der russische Staat noch nie sehr viel übrig. Sie sind Kanonenfutter, das posthum mit einer patriotischen Gedenkrede kollektiv abgespeist wird. Unter Präsident Putin, so hofften viele, würde sich daran etwas ändern. Doch der Kremlchef versteckt sich hinter einer Mauer aus Scham oder Zynismus.

Widjajewo liegt in der Tundra, umgeben von glattgeschliffenen Felsen und einem meterhohen Sicherheitszaun. Im Offiziersclub muss Putins Vizepremier und Chef der Regierungskommission Ilja Klebanow seinen Kopf hinhalten. Der schwere Bühnenvorhang und die mit purpurrotem Stoff bezogenen Wände lassen etwas vom ruhmreichen Selbstverständnis der Roten Armee ahnen. Hier findet das erste Treffen mit Angehörigen statt. Klebanow, äußerlich ein gutmütiger Hollywood-Gauner, dem die Lüge noch nicht ins Gesicht graviert ist, hat es schwer. Die verzweifelten Eltern kennen keine Contenance mehr: „Was habt ihr Dreckskerle unternommen. Ihr setzt untaugliches Gerät ein, das noch nie im Einsatz war“, schreit eine Mutter mit blondem Bubikopf. Sie gerät in Rage mit jedem weiteren Wort der Beschwichtigung. „Mein Sohn liegt für 55 Dollar im Monat eingeschlossen in einer riesigen Konservendose.“ Auch ihr Mann hat in der Marine gedient. Doch wofür? „Damit ich meinen Sohn hier beerdige?“ schreit sie außer sich. Hinter ihr bringt sich eine Ärztin mit einer Spritze in Position. Zur Beruhigung? Die Frau wehrt sich, und auch den Offizieren gelingt es nicht, sie zum Schweigen zu bringen. „Habt ihr Kinder großgezogen, ihr verfressenen Säcke? Ihr fürchtet um eure Epauletten, statt euch eine Kugel durch den Kopf zu jagen.“ So wie sie denken hier wohl alle. In der hinteren Reihe bricht eine Frau zusammen und wird von Soldaten hinausgetragen.

Die Stimmung brodelt in Murmansk, dem einzigen eisfreien Hafen im Norden Russlands. Unter der scheinbar resignativen Oberfläche herrschen Wut, Enttäuschung und Aggressivität. Der 50-jährige Ingenieur Igor arbeitet in einer U-Boot-Werft. Er führt seinen Pudel auf dem Lenin-Prospekt spazieren, der Prachtstraße mit üppigen, aber bröckelnden Bauten aus der Stalin-Ära. Er möchte anonym bleiben. Wer weiß ... „Erst haben sie den Eisernen Vorhang hochgezogen, und jetzt lassen sie ihn bis auf einen Spalt wieder runter“, meint er. Die ganze Stadt wusste sofort, was Sache ist. Jeder habe etwas mit dem Meer zu tun. „Uns kann man nichts vormachen.“

„Alles erstunken und erlogen“

Die offiziellen Erklärungen des Unglücks und der verschleppten Rettungsaktion lässt er nicht gelten: „Alles erstunken und erlogen“, zittert seine Stimme. „Es wurde keine Hilfe angefordert, weil die Militärs ihr Können zeigen wollten. Stattdessen haben sie endgültig bewiesen, dass wir der ganzen Welt hinterherhinken.“ Die Havarie sei selbst verschuldet und das wolle man vertuschen. „Ausländische Rettungsteams wurden nur reingelassen, um den Anschein eines menschlichen Gesichts zu wahren. Wahrheit, Offenheit? Sie sind Militärs, was will man von ihnen erwarten?“ Vermeintliche militärische Geheimnisse zählen mehr als das Leben von 118 Menschen, sagt er wütend und nestelt an der Hundeleine. „So ein ungeheures Opfer in Friedenszeiten ist eine Schande.“ Für Igor steht fest: Irgendeine Schlamperei hat die Katastrophe verursacht. Äußere Einwirkungen schließt er aus. Für absurd hält er die Version eines „unter Wasser treibenden Fremdobjekts“, die suggeriert, ein Nato-Schiff könne das Unglück verursacht haben.

Die Havarie hat Träume in Murmansk zunichte gemacht. Kein anderer als Kremlchef Wladimir Putin nährte zunächst Hoffnungen. Seine Devise, Russland müsse den Großmachtanspruch durch verstärkte Präsenz auf den Weltmeeren untermauern, hätte dem nördlichen Hafen mit Staatsgeldern vielleicht eine neue Blüte beschert. Wunschvorstellungen, unausgegoren, die inzwischen ad acta gelegt sein dürften. Die „Kursk“ war das modernste Boot der russischen Flotte. Selbst wenn Geld für ein neues U-Boot vorhanden wäre, würde der Bau mindestens fünf Jahre dauern.

Moskaus Ambitionen haben unterdessen das Gegenteil bewirkt: Der Abstand zur Schlagkraft der Nato ist kaum noch aufzuholen. Mit der „Kursk“ versank auch die Hoffnung vieler Russen, wenigstens durch Demonstration militärischer Stärke ein Stück nationaler Geltung und kollektiver Größe für sich reklamieren zu können. Das versprach und verkörperte die symbolische Politik des neuen Präsidenten, dem die Mehrheit der Murmansker bei den Wahlen ihre Stimme gab.

Die Präsidialkanzlei des Kreml hat auch an der PR-Front eine vernichtende Niederlage erlitten. Egal was Putin jetzt unternimmt, Sympathie- und Glaubwürdigkeitsverlust, zumindest in Murmansk, lassen sich nicht mehr wettmachen. Wohlgemeinte Gesten würden nur noch zynisch wirken. Der Präsident handhabte die Krise nach klassischer sowjetischer Art: Es gibt kein Problem, wenn Partei und Generalsekretär so befinden. „Jelzin“, meint eine ältere Passantin, „hätte wenigstens Anteilnahme gezeigt und mitgetrauert, auch wenn er nichts hätte ausrichten können.“ Das vermissen die Menschen. Eine verbindliche Geste statt Kaltherzig- und Kaltschnäuzigkeit. Die kurzfristige Illusion, Volk und Armee seien eins, wie es der Tschetschenienkrieg vorgaukelte, scheint nun durch bittere Wahrheiten korrigiert zu werden.

Abgründe tun sich auf. So enthüllte die Komsomolskaja Prawda, sie habe 1.500 Mark an einen hohen Offizier im Flottenstab zahlen müssen, um die Namensliste der untergegangenen Mannschaft zu bekommen. Viele Familien wussten nämlich nicht, wo ihre Angehörigen Dienst tun.

Um 17 Uhr am Samstag dann die Gewissheit. Der Kommandeur der Nordflotte, Michail Mozak, tritt in einer Sondersendung im Fernsehen auf. Das Ausmaß der Havarie wird erstmals zugegeben. „Das schwerste Unglück in der Geschichte der russischen Flotte, eine Katastrophe“, räumt der Vizeadmiral ein. In den ersten zweieinhalb Minuten sei die Mannschaft in den Schotten eins und zwei, wo sich das Kommando des Bootes befindet, durch die einbrechenden Wassermassen vernichtet worden. Für den Rest der Crew in den anderen sieben Schotten sei der kritische Moment bereits am Donnerstag überschritten worden.

Furcht vor dem Zorn der Mütter

So kann man es auch sagen, zwei Tage danach. Hoffnungen sind vergebens, und die Chance, jemand könne überlebt haben, schrumpft auf eine theoretische Größe. Eine Stunde später wiederholt der Pressechef der Nordflotte im „Haus der Politaufklärung der Marine“ das Gleiche noch mal. Im Fernsehen läuft parallel die englische Serie „Portrait of Death“, bis endlich jemand den Knopf drückt. Sind die Angehörigen vorher informiert worden oder haben sie die kollektive Todesnachricht aus dem Fernsehen erhalten? Wladimir Nawrotzky wird verlegen, seine Augen wandern zur Decke. Kein Verantwortlicher hatte Courage genug, den Angehörigen persönlich zu kondolieren. Helden, die den Zorn der Mütter fürchten.

Wenig später tauchen auch Mozak und Klebanow auf. Ihre Sicherheitsbeamten feixen vor dem Aufgang. Eine entrüstete Murmanskerin stürzt auf sie zu und schreit unter Tränen: „Habt ihr keine Seele im Leib, ist euch nach Lachen zumute?“ Vergeblich versuchen die Beamten, sie wegzudrängen. „Wir sind doch für euch nichts anderes als Dreck, so war es und bleibt es.“ Die Sicherheitsleute sind hilflos. Auf Volkes Zorn sind sie nicht vorbereitet.

Alexander Rutskoi, der Gouverneur von Kursk, woher viele Besatzungen stammen, ist auch in Murmansk eingetroffen. Sein Kommentar zum Schweigen hinauf bis an die Spitze des Kreml: „Jeder hat seine Vorstellungen von Ehre, jeder handelt, wie er es für richtig hält.“