Hörsäle und andere Clubs

Hier passiert’s, hier chillt es sich gut, hier gibt es Spoken-Word-Performances von MC Wolfsstetter: Der hippste Ausgehort der neuen Mitte ist die Daylounge 201 der ehemaligen Handelsschule

von THOMAS GLÄSSER

Da hatte man gerade gedacht, Berlins Bilderbuch-Szenegastronom Bob Young hätte mit seiner Lounge 808 in der Oranienburger den state of the art gepflegter Langeweile mustergültig umgesetzt. Und dann fehlt man doch weit, meilenweit, genau genommen nicht mal eine ganze Meile weit. Spaziert man die Oranienburger Richtung Hackescher Markt und unter der S-Bahn hindurch, kommt man bald zur ehemaligen Handelshochschule in der Spandauer 1. Und hier, ja hier, hier passiert’s wirklich. In dem großen Gebäude mit dem Vintage-Appeal findet man im zweiten Stock die Daylounge 201, in der das neue Millennium nicht nur diesen schönen Namen hat, den keiner mehr hören kann, sondern auch eine eigene Loungekultur.

„No music, no drugs & no fun“, scheint das Motto zu sein. Zahlreiche „Bitte nicht rauchen“-Schilder im Hallway und ein schickes „No burgers & beverages“- Verbotsschild zieren den Weg zur Lounge. Beim Catering, das aufgrund des Verzehrverbots in der Lounge auf dem Ground Floor angesiedelt ist, hält man sich strikt an das Prinzip „less is more“. Mehrere Getränkeautomaten, die man aus dem letzten Jahrtausend mitgenommen hat, sorgen für das leibliche Wohl.

Die Preise sind mehr als okay. Hier gibt es „Heißes Wasser mit Becher“ für zehn, „Sprudelwasser ohne Kalorien“ für vierzig oder „Kaltgetränk mit Sauerkirsch-Geschmack“ für sechzig Pfennig. Ostcharme pur.

Als ich komme, es ist etwa 14.30 Uhr, ist die Lounge rappelvoll und MC Wolfstetter schon on stage. Ausgestattet mit einem lässigen Clip-on-mike zelebriert er eine intellektualistisch-zerfasernde Spoken-Word-Performance, die in immer neuen Patterns um Begriffe wie Angebot, Nutzen und Produktion kreist. Sollte er Marxist sein, hat er von Agitation nicht viel verstanden. Aber die wäre hier auch fehl am Platz – das Gegenteil ist angesagt.

Das früher branchenübliche „How do you feel“ hat er durch ein lakonisches „kay“ am Satzende ersetzt. So klingt wahres Understatement. Die Crowd kontert mit souveränem Desinteresse. Die moderate Lautstärke des Soundsystems ermöglicht angeregte Gespräche. Nicht einmal Wolfstetters live auf eine rotierende Folie gekritzelten Leuchtschirm-Visuals sorgen da für Aufsehen. Es regiert Langeweile bis zum Abwinken, und mir scheint, ich habe sie gefunden: die neue Mitte. Das muss sie einfach sein. Der Dresscode ist ziemlich low-key mit einem dezidierten Zug ins Spießige. Glamour oder Slackertum sind offensichtlich out, an Sexual-Fantasy-Outfit gar nicht zu denken. Man trifft sich hier zum kollektiven Ernüchtern. Und wenn es manchmal wirkt, als würde sich der eine oder andere halb schläfrig-wohlig an den gelegentlich aufblitzenden Begriffen der New Economy reiben, ist das wohl nur eine Überinterpretation des allgemeinen Gähnens. Die Belüftung ist lausig. Der Blick beginnt unwillkürlich zu schweifen, hinaus durch die großen Fenster, die für eine einzigartige Daylight-Atmo sorgen, und durch den großen Saal, der eine leicht angeranzte, sachliche Ostigkeit verströmt. Einsames Highlight sind die Glaskugellampentrauben an den Wänden, aber auch sonst ist hier etwas Besonderes gelungen: Triple Nostalgia könnte man sagen, denn zu dem Ostambiente gesellen sich Anspielungen an Orte großer Emotionen: Kino und Schule. Man sitzt hier dicht an dicht in engen Klappsitzreihen und schaut auf den MC, hinter dem sich eine riesige Schiefertafel erstreckt.

Sogar eine Leinwand gibt es und vollgekritzelte Schreibklappen. „I can’t get no satisfaction“, steht da zum Beispiel. Der Spruch unterstreicht den evolutionären Quantensprung, den die Lounge für die Clubkultur bedeutet: Um Satisfaction geht es hier überhaupt nicht mehr, „der Grenznutzen ist die zentrale Größe der Trade-off-Betrachtung“, toastet der MC zum Thema, und die neue Mitte ist damit dem Underground um Längen voraus.

Egal, ob die Events „Brown Bag“, „Public Choice“, „Mergers“ oder „Buchhaltung“ heißen: Hier ist es immer voll, selbst um acht Uhr morgens. Gelegentlich geht man zwar noch in andere Clubs, vor allem nachts und am Wochenende, denn da hat das „201“ geschlossen, aber am Montag sind alle wieder da. Hier chillt man nur zu Zeiten, zu denen andere arbeiten. Der harte Kern hält dem 201 seit vielen Jahren die Treue. Ach ja – noch ein Trumpf: die obercoole Türpolizei! Der Eintritt zu allen Veranstaltungen ist frei und der Türsteher nur dazu da, die Einhaltung des Verzehrverbots zu kontrollieren. Also – checkt das aus, gleich nach der Sommerpause. Einlass ist jeweils 15 Minuten vor Beginn der Veranstaltungen.

Daylounge 201: ehemalige Handelshochschule, Spandauer Str. 1, Mitte