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Im Netz gef@ngen

von MANFRED KRIENER

Sabine hat zehn Kilo abgenommen und trägt dicke Ringe unter den Augen. Keine Zeit zum Essen, keine Zeit zum Schlafen, keine Zeit für die Kinder. Ehemann Werner hat heimlich ihren Tagesablauf protokolliert und Mausklick für Mausklick die Zeiten gestoppt.

Aufstehen um 6.30 Uhr, danach erster Gang an den Computer. Bis 7 Uhr chattet Sabine mit Online-Freund X. Dann ist Pause, die Kinder werden abgefrühstückt. 7.45 Uhr, erneut anmelden, Online-Freund Y ist da. Es reicht für einen halbstündigen Chat, anschließend ist es höchste Zeit für die Arbeit. Um 12.45 Uhr ist Mittagspause. Hastig essen, um 13 Uhr wieder anmelden, die Freunde X, Y und Z warten schon. Chatten bis 14.15 Uhr. Nach Feierabend dasselbe Programm. Nur mal schauen, ob neue E-Mails da sind. Chatten von 19.00 bis 19.45 Uhr und von 20.15 bis 21.30 Uhr. Um 22.30 Uhr will Sabine ins Bett. Aber zuerst muss sie noch schnell zum Computer, nachsehen, ob Post da ist. Das kann dauern. Ehemann Werner: „Meine geliebte Frau, mit der ich seit 15 Jahren verheiratet bin und zwei Kinder habe, ist seit Mai 1999 auf diesem Trip.“

Thomas hat ganze Nächte durchgemacht. Und über sich selbst gestaunt: „Da ist ein anderes Ich, das sich in wildester Manie mit unsichtbaren Wesen am Rechner unterhält, ihnen Dinge anvertraut, von denen ich vorher selbst nichts wusste. In mir erwacht eine Erotik und eine Sehnsucht, die mir niemals bewusst war. Das alte Ich fragt: Was tust du da, warum vernachlässigst du deine Kinder? Warum ist dir deine Frau nicht mehr wichtig? Warum gehst du nicht mehr tanzen oder triffst dich mit Freunden? Warum kannst du auf dieses Internet und die Menschen darin nicht mehr verzichten?“

Martina schiebt freiwillig Überstunden. Wenn der Chef Feierabend macht, kann sie endlich in aller Ruhe stundenlang online gehen. Zu Hause würde das auffallen. „Wenn tagsüber das Telefon ständig besetzt war, weil ich im Netz surfte, erfand ich den Schwindel mit der Leitung, die von der Telekom gerade repariert wird. Die hohen Telefonkosten verrechne ich mit meinen Überstunden. Mein engstes Umfeld – Mann, Kinder, Eltern – ahnt absolut nichts. Ich beherrsche die perfekte Tarnung.“

Drei Menschen, drei Fallberichte, die – wo sonst – im Internet nachzulesen sind. Das weltweite Netz als Beichtstuhl in eigener Sache. „www.onlinesucht.de“ heißt die Anlaufadresse für Menschen, die – sagen wir es freundlich – ihre Online-Zeiten nicht mehr im Griff haben. Hier, auf der Homepage der Selbsthilfegruppe, sind sie im Schutz der Anonymität alle versammelt: „Karatekid“ und „Alice Wonder“, Ehemänner, die ihre Frauen nicht mehr verstehen, und Mütter, die ihre Kinder als Computer-Zombies erleben. Die Betroffenen kommen aus allen Altersgruppen. Mit talkshowartigem Exhibitionismus berichten sie über zerbrochene Ehen und Schuldenberge, galoppierende Telefonrechnungen und durchwachte Nächte, über erotische Abenteuer und natürlich über die erste große Internetliebe. Die meisten bezeichnen sich selbst als süchtig oder zumindest zwanghaft, gefangen im Netz. Doch ob sie krank sind oder nur verhaltensauffällig, süchtig oder nur einsam und depressiv, darüber streitet die Wissenschaft.

Erste Ambulanz für Süchtige

Nachdem Dutzende amerikanischer Studenten in ihren Diplomarbeiten die „Internetsucht“ beschrieben haben, ist das Thema in der etablierten Medizin- und Wissenschaftsszene angekommen. „Ist die Internetsucht wirklich eine eigene Krankheit?“, fragt das angesehene Medizinerfachblatt Lancet und lässt Experten aus drei Ländern die Antworten suchen. Das diagnostische Etikett mag umstritten sein, die Befunde sind eindeutig. Die Lancet bilanziert: „Süchtige verlieren die Kontrolle über ihre Internetzeiten, und sie gefährden ihren Arbeitsplatz. Die materiellen und psychischen Gefahren sind groß. Die wachsende Attraktivität des Internets mit immer neuen Shopping- und Spieleangeboten wird das Problem noch verschlimmern.“

In Deutschland ist eine erste Studie unterwegs: Der Psychologe André Hahn und sein Kollege Matthias Jerusalem von der Berliner Humboldt-Universität untersuchen seit mehr als einem Jahr „Stress und Sucht im Internet“. 14.208 Personen haben die Wissenschaftler mit 158 Fragen zu ihren Online-Gewohnheiten gequält. Jetzt hat der zweite Teil ihrer Arbeit begonnen, an den sich der dritte, vielleicht spannendste Teil anschließen wird: die Ursachenforschung. Warum ist die Welt online so viel schöner? Bietet das Internet wirklich ein Gefühl von globaler Heimat, von Freiheit und Grenzenlosigkeit, das sich die Surfer mit jedem Mausklick in ihre Wohnstube holen? Garantiert der PC die nötige Anonymität, um frei von Schüchternheit und Verklemmungen tage- und nächtelang in Chatrooms exzessiv über Sex und Beziehungen zu „reden“? Über die Antwort darf munter spekuliert werden, denn „über die Ursachen der Internetsucht wissen wir bisher überhaupt nichts“, sagt André Hahn.

Das Suchtphänomen haben die beiden Wissenschaftler im ersten Teil ihrer Arbeit detailliert beschrieben. Ihr eher vorsichtiges Ergebnis: In der Bundesrepublik sind etwa drei Prozent aller Nutzer, also 300.000 Menschen, vom Internet abhängig. Sie verbringen im Mittel eine volle 35-Stunden-Woche im Netz, täglich fünf Stunden. Sieben Prozent der Befragten gelten als suchtgefährdet mit einer wöchentlichen Netzzeit von 28,5 Stunden. Die Online-Zeit allein entscheidet allerdings nicht über die Diagnose, genauso wenig wie ein Alkoholiker nur nach Schnapsverbrauch definiert wird. Dennoch: Die Rekordhalter aus der Humboldt-Studie verbrachten mehr als 100 Wochenstunden im Internet. Da wird der Mausklick zum Lebensinhalt.

Drei Prozent „Verhaltensauffällige“, findet Hahn, sind eine überraschend hohe Quote, auch wenn andere Studien aus den USA oder aus dem europäischen Ausland zuvor noch größere Fallzahlen ermittelt hatten mit bis zu 20 Prozent Süchtigen. Hahn ist selbstbewusst genug, die meisten vorliegenden Arbeiten als unseriös abzulehnen. Die Studien seien methodisch schlampig durchgeführt worden und würden die Suchthäufigkeit weit überschätzen. Teilweise seien durch die Rekrutierung der Studienteilnehmer gezielt Menschen mit Problemen ausgewählt worden. „Das ist, als wenn ich in der Kneipe die Alkoholikerhäufigkeit messen will.“ Hahn will mit seiner Forschung ganz unten anfangen: Seine Arbeit soll vor allem dazu dienen, einen Fragenkatalog als methodisches Instrument zu entwickeln, um die Internetabhängigkeit überhaupt ermitteln zu können. Einfach drauflosfragen und dann nach Gefühl entscheiden, ob der Nutzer süchtig ist – „das funktioniert nicht, das ist keine Wissenschaft“.

In der Bundesrepublik gehen täglich 3 bis 4 Millionen Internetnutzer online. Hauptzugriffszeiten sind von 9 bis 12 und von 18 bis 22 Uhr. Schon die durchschnittliche „Verweildauer“ überrascht: 59 Minuten, also fast eine ganze Stunde lang, bewegt sich der gemeine User Tag für Tag im Netz. Das kostet. Die Hälfte der Nutzer bleibt monatlich zwar unter 50 Mark, die andere Hälfte aber darüber. Sechs Prozent aller Kunden von AOL und T-Online zahlen monatlich mehr als 200 Mark Internetgebühren. Datenbanken, Nachrichten, Börseninformationen und Software-Downloads sind die am häufigsten angesteuerten Ziele.

Die von Hahn und Jerusalem ermittelten Süchtigen haben indes andere Favoriten. Sie suchen vor allem Chats und Kommunikationstreffs, sie spielen häufig online (ohne Geldeinsatz), laden sich Musik herunter und clicken Erotikseiten an. Wie hoch der Pornofaktor ist, bleibt umstritten, weil viele der Befragten aus Scham ihre Lust am Sex im Fragebogen verleugnen. Oliver Seemann, der in München „Deutschlands erste Ambulanz für Internetsüchtige“ betreibt, findet den Porno-Anteil vernachlässigbar. Sein französischer Kollege Dan Velea glaubt dagegen, dass 30 Prozent aller Süchtigen vorrangig Sex- und Pornografieseiten suchen.

Typisch ist der hohe Anteil von Jugendlichen, Singles und Arbeitslosen unter den Süchtigen. Frauen sind überraschend stark vertreten. Nur in der Altersgruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen bis 20 Jahre dominieren Männer. Mit zunehmendem Alter sind Frauen bis zu dreimal häufiger als Männer von der Diagnose Internetsucht betroffen (siehe Grafik). Als Internet-abhängig gilt, wer im 30-seitigen Fragebogen die fünf entscheidenden, immer wieder anders formulierten Fragen nach Kontrollverlust, Entzugserscheinungen und Toleranzentwicklung, über die sich jede Sucht definiert, bejaht, und wer Probleme in Familie und Beruf einräumt (siehe Grafik).

Danach gilt für 300.000 Deutsche: fünf Richtige! Alle fünf formulierten Suchtessentials „treffen eher zu“ oder „treffen genau zu“. Aber wie können die Internetjunkies von der Droge loskommen? André Hahn glaubt, dass die Betroffenen einen kontrollierten Umgang lernen können. Online-Abstinenz sei nur in schwersten Fällen nötig.

Neues Symptom für ein altes Übel

Als ersten therapeutischen Schritt empfiehlt der Berliner Psychologe das Zeittagebuch, in dem die Surf-Minuten aufgeschrieben werden. „Das bringt Transparenz und Reflexionsfläche“, glaubt Hahn. Der User beginne über seine ständige Online-Präsenz nachzudenken. Außerdem sollten die Betroffenen einen „Substitutionsplan“ machen, also gezielt ihre freie Zeit anders und sinnvoller planen. Wer es alleine nicht schafft, dem empfiehlt Hahn, gemeinsam mit anderen Netzjunkies oder in einer Selbshilfegruppe zu versuchen, die Zeiten zu reduzieren. Dritte Möglichkeit ist die professionelle Hilfe bei einem ausgebildeten Therapeuten, der die hinter der Internetsucht liegenden Konflikte bearbeitet.

Maressa Hecht-Orzack, klinische Harvard-Psychologin, sieht bei den Internetpatienten, die sie behandelt, eine Reihe schwerwiegender Störungen: Depressionen, soziale Phobien, Aufmerksamkeitsdefizite und verminderte Impulskontrolle seien die häufigsten Probleme ihrer Klientel. Für sie ist Internetsucht nur ein neues Symptom für ein altes Übel.

Das neue Suchtproblem ist allerdings so weit verbreitet, dass sich auch die Experten nicht frei davon fühlen. Psychologie-Expertin Hecht-Orzack hat, wie sie freimütig zugibt, eine „Beinahesucht“ für das Windows-Kartenspiel „Solitaire“ entwickelt. Als Selbsttherapie hat sie den Computer von ihrem Arbeitsplatz entfernt. Die Spielzeiten waren aus dem Ruder gelaufen.

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