„Es gibt keinen Betrag, der angemessen wäre“

Der ehemalige Zwangsarbeiter Ernst Müller könnte eine Entschädigung der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft erhalten. Er wird sie ablehnen, denn auf sein Klagerecht verzichten will er nicht

von PHILIPP GESSLER

Was hat Ernst Müller das Leben gerettet? Seine schöne Handschrift – ein wenig, denn das war im Lager gefragt und so hat er ab und zu etwas zusätzlich zu essen bekommen. Sein gepflegtes Deutsch ganz ohne Akzent – vielleicht, denn so einen prügelt man womöglich nicht so leicht zu Tode. Sein Mutterwitz – bestimmt, sagt der 83-jährige Berliner: „Ohne den würde ich nicht mehr leben.“ Und sein Zorn.

Heute flammt der wieder auf, wenn der kranke alte Mann an die deutsche Industrie denkt, die ihn als ehemaligen Zwangsarbeiter und Auschwitz-Häftling mit ein paar tausend Mark abspeisen will. Gerade hat er die ersten Briefe bekommen: Als ehemaliger Sklavenarbeiter kann er eine Entschädigung von der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft erhalten. Doch obwohl er das Geld sehr gut brauchen kann, wird er ablehnen: da man ihn gleichzeitig verpflichten will, nicht auf eine höhere Zahlung zu klagen.

Zwangsarbeit zerstört

„Es gibt keinen Betrag, der angemessen wäre“, sagt Müller. Schließlich seien 28 seiner Angehörigen ermordet worden – ins Gas geschickt, wenn sie deutschen Unternehmen als Arbeitskräfte nicht mehr nützlich waren. Ihn selbst hat die Zwangsarbeit für diese Firmen kaputt gemacht. Müller ist ein Wrack, physisch wie psychisch. „Seit dem 6. Mai 1945 bis zum 9. Juni 2000 verbrachte ich über 28 Jahre in stationärer Behandlung“, schreibt er in seinem Lebenslauf. „Ein total verpfuschtes Leben“, sagt er.

Was ist das, ein „verpfuschtes Leben“? Bei Ernst Müller sah es so aus: Er wird in Troppau, im Sudetenland, das damals noch zu Österreich zählt, geboren und wächst in Prag auf. Nach der Besetzung der Tschecheslowakei durch deutsche Truppen wird er als Jude aus der Karlsuniversität geschmissen. Da hat er schon sechs Semester seines Medizinstudiums hinter sich. Am 4. Januar 1941 wird er als „Staatsfeind“ verhaftet. Es beginnt eine Odyssee durch mehrere Gefängnisse, ehe er in die „Kleine Festung“ des KZ Theresienstadt gebracht wird – in eine winzige Zelle, die mal zwei, mal fünfzehn Häftlinge aufnehmen muss. Mehr als ein Jahr überlebt er dort. „Das war schlimmer als Auschwitz.“

Dorthin kommt er am 31. Juli 1943. Müller arbeitet für die Errichtung einer „Faulgasanlage“, ein riesiges Gaswerk, das aus Exkrementen gespeist werden soll. Siemens, AEG, die Autounion und viele andere deutsche Unternehmen sind am Bau beteiligt. Die Vorarbeiter der Betriebe schicken kranke Arbeiter zurück ins Lager – und das hieß: in den sicheren Tod in den Gaskammern. „Sie wussten, was sie taten“, sagt Müller heute, „die deutsche Industrie war an der Ausbeutung und Vernichtung der jüdischen Häftlinge beteiligt.“

Im September 1943 bekommt Müller eine Phlegmone am Bein. Das ist ein Loch, das entsteht, wenn das Fleisch wegen Unterernährung am Leibe fault. Normalerweise hätte das für ihn bedeutet, „durch den Kamin zu gehen“, wie die KZ-Häftlinge den Tod im Gas nennen. Doch mit Hilfe von Freunden übersteht er zwei Selektionen der SS. Als er im Januar 1944 wieder auf den Beinen ist, gelingt es ihm, in das begehrte „Aufräumkommando“ zu kommen. Dieses Kommando muss an der Rampe von Auschwitz aus den ankommenden Zügen Kranke, Behinderte und Tote ausladen. Ebenso ihre Habseligkeiten. So kommt man an Essen, kann Konserven, Kaffee oder Schokolade, ja sogar Wertsachen wie Schmuck oder Uhren zur Seite schaffen – und dann etwa gegen Medikamente tauschen.

Am 20. Januar 1944 macht Müller eine schreckliche Entdeckung: Er sieht seine Mutterin einer Gruppe von Häftlingen, die unter Peitschenhieben beisammengehalten wird. Er hört noch, wie sie ruft: „Bub, sei stark!“, dann wird sie in die Gaskammer getrieben. Auch seinen Vater sieht er noch einmal: Er muss seine Leiche in einem Karren wegfahren.

Ein Jahr später, kurz vor der Befreiung von Auschwitz, beginnt der „Todesmarsch“, der ihn in das KZ Mauthausen bringt – in offenen Waggons werden 8.000 Häftlinge transportiert. Bei 20 Grad minus sterben 6.000 von ihnen. Im Kloster Melk wird er schließlich unter Tage in der Produktion der V 2-Rakete eingesetzt. Sie sollte Hitlers „Wunderwaffe“ sein. Vor Entkräftung fällt er ins Koma – und erwacht in einem US-Militärkrankenhaus. Die amerikanischen Ärzte haben ihn aufgegeben. Aber er überlebt – als „Krüppel“, wie er sagt.

Ein verpfuschtes Leben

Wenn er heute darüber redet, legt Müller zur Illustration eine Bescheinigung des Versorgungsamtes Berlin vor. Das Schreiben attestiert ihm eine 100-prozentige Behinderung und listet 13 Krankheiten auf: von „Herzleistungsminderung“ nach Infarkten und drei Bypass-Operationen über tablettenpflichtige Zuckerkrankheit und ein Prostataleiden bis zu Sprachstörungen in Folge von Schlaganfällen. Dazu ein „posttraumatisches seelisches Leiden“, das „Auschwitz-Syndrom“. Es äußert sich in Depressionen, Phobien und paranoiden Zuständen.

Es sind diese seelischen Leiden, die sein Leben zersetzen. Denn wie ein Gejagter verlebt er seine Jahre nach dem Krieg, hat nirgends Ruhe, wechselt ständig den Wohnort, lebt in Österreich, Italien, Israel. Er sei immer auf der Flucht gewesen, sagt Müller – „auf der Flucht vor mir selbst“. Obwohl er ein Studium der Medizin und Biochemie abschließt, kriegt er sein Leben nicht in den Griff, findet erst in den Siebzigern im hessischen Bad Nauheim eine feste Partnerin.

Er heiratet und arbeitet als wissenschaftlicher Übersetzer für Hoechst – bis zum 2. Oktober 1982: Auf der Straße läuft er zwei Polizisten mit Schäferhunden über den Weg. Panisch flieht er aus der Stadt, dann nach Madrid, Rom, Israel. Er gibt seiner Frau kein Lebenszeichen. Das war das Ende seiner Ehe. Einige Zeit später wird sie geschieden.

Dann rutscht er völlig ab. Er erwirbt eine Druckerei, fälscht Dokumente, irrt durch Europa mit elf verschiedenen Namen – am 8. Juni 1995 wird er in Berlin wegen Betrugs zu zwei Jahren Haft verurteilt, ohne Bewährung. Er geht in Berufung und erreicht eine Aussetzung der Strafe zur Bewährung – Müller sieht dieses Leben am Rande der Gesellschaft als eine Folge des Auschwitz-Syndroms. Verpfuscht.

Seit ein paar Jahren lebt Müller nun in Berlin. Dank einer guten Freundin, die ihm hilft, habe er hier „eine Heimat“ gefunden, sagt er – erstmals in seinem Leben. Ausgestattet mit den nötigen Dokumenten, hat er 1951 einen Antrag auf Wiedergutmachung gestellt. Es dauerte mehr als 45 Jahre, bis er sie erhielt. Die Akten seien unauffindbar, bekam er von den deutschen Behörden stets zu hören. Jetzt lebt er nicht mehr wie die Jahrzehnte davor von Sozialhilfe, sondern erhält eine knappe Rente als „politisch, rassisch oder religiös Verfolgter“, wie es im Ausweis heißt.

Müller will nun klagen: auf Nachzahlung der Wiedergutmachungsbeträge, die ihm jahrzehntelang vorenthalten worden sind – wenn das möglich ist. Trotz aller Leiden wirkt er kampfeslustig. Der Zorn hält den Krüppel am Leben.

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