die stimme der kritik
: Betr.: Marcel Reich-Ranicki und seine neuen literarischen Vorlieben

Telefonbücher, nehmt euch in Acht!

Darf ein Literaturkritiker Werbung für Bücher machen? Darf er gegen Bezahlung genau jene Produkte anpreisen, über deren Qualität er eigentlich urteilen soll? Marcel Reich-Ranicki tut es, und er hat auch gleich seine Scheu gegenüber Bestsellern über Bord geworfen. Bislang waren die „Buddenbrooks“ das meistverkaufte Buch, das seine Billigung fand. Jetzt hat er plötzlich ein Werk entdeckt, das allein in Deutschland jedes Jahr in 122 Ausgaben und einer Auflage von 40 Millionen Exemplaren erscheint.

„Es lohnt sich, dieses Buch zu lesen“, rät der Kritiker in dieser Woche den Lesern des Spiegels. Auf der hinteren Umschlagseite des Hamburger Magazins posiert er mit Leidensmiene auf einem Sofa. Auf seinen Knien sieht der Betrachter das Objekt des hymnischen Lobs: ein Telefonbuch. „Da finden Sie auch alte Bekannte“, frohlockt Reich-Ranicki. Erstaunlich: Der Egomane lobt ein Buch, das schätzungsweise zu 95 Prozent von Personen handelt, die weniger intelligent sind als er selbst. „Ich habe es satt, dauernd Bücher über Idioten zu lesen“, hatte er noch in der jüngsten Ausgabe des „Literarischen Quartetts“ zu Protokoll gegeben.

Hat bei Reich-Ranicki, der seit dem Zwist mit Kollegin Sigrid Löffler generell sanftere Töne anschlägt, auch auf diesem Feld ein Sinneswandel eingesetzt? Oder zeigt ihn das Werbefoto mit der Frankfurter Ausgabe des Telefonbuchs, wo er tatsächlich einen „alten Bekannten“ getroffen hat? Etwa unter dem Buchstaben „R“? Unwahrscheinlich, wie die taz-typische schnelle Recherche zeigt: Der Großfeuilletonist ist gar nicht drin. Für das Telefonbuch gibt es dann wohl keine Rettung mehr.

Bereits die optische Aussage der Werbeseite steht in krassem Widerspruch zum verbalen Lob: Das arme Telefonbuch, denkt sich der Betrachter. Nicht nur, weil populäre Fernsehshows in den frühen Neunzigern starke Männe zeigten, die dicke Telefonbücher zerlegten. Sondern auch, weil Reich-Ranicki auf dem Spiegel-Umschlag schon beim weniger schonenden Umgang mit Büchern zu beobachten war – allerdings nicht auf der Rückseite, sondern auf dem Titel: Da zerriss er den Grass-Roman „Ein weites Feld“.

Damals stahl sich der Kritiker aus der Verantwortung: „Solche Titelblätter werden doch nicht mit den Autoren abgesprochen.“ Diesmal gibt es keine Ausflucht mehr. „Herr Reich-Ranicki war von der Idee sofort angetan“, versichert die Telekom. Telefonbücher, nehmt euch in Acht! RALPH BOLLMANN