Die Wahrheit des Gebirges

DAS SCHLAGLOCH
von KERSTIN DECKER

Am Sonnabend wussten wir, dass alles ein Missverständnis war. „Ich wollte sie bis zur Hirnerweichung vögeln“, rekapitulierte Harald Martenstein im Berliner Tagesspiegel die entscheidende Textstelle des japanischen Romans „Gefährliche Geliebte“, an der vor zwei Monaten beinahe das „Literarische Quartett“ zerschellte. Ja, ich weiß, „Literarisches Quartett“ gehört zu jenen Worten, die ganz plötzlich anfangen, im Mund zu wachsen und nicht mehr vor und zurück wollen. Genau wie das Wort „Hund“. Am liebsten würden wir nur noch Sätze bilden, in denen weder „Literarisches Quartett“ noch „Hund“ vorkommen. Und morgen fangen wir damit an. Aber heute müssen wir die Sache mit dem Quartett zu Ende bringen.

Also: „Ich wollte sie bis zur Hirnerweichung vögeln.“ Im Original: Nomiso ga tokero kurai. Der Tagesspiegel vermutete, dass, hätte man nur viel originalgetreuer übersetzt, etwa mit „Ich wollte sie vögeln, bis das Gehirn schmilzt“, Sigrid Löffler das Buch von Haruki Murakami gar nicht mehr so fastfoodmäßig gefunden hätte – ist Gehirnschmelze nicht beinahe eine metaphysische und damit poetische Vision? –, Marcel Reich-Ranicki (MRR) hätte keinen Grund gehabt, Frau Löffler zu sagen, dass sie keinen blassen Schimmer von Erotik und damit vom Hauptthema der Weltliteratur besitze. Vor allem aber hätte es niemals den Artikel letzten Freitag von Alice Schwarzer in der Süddeutschen Zeitung gegeben. Unterzeile: „Wer spricht, wenn Reich-Ranicki spricht?“

Alice Schwarzer ist das Übersetzungsproblem völlig egal. Vielleicht wusste sie auch noch gar nicht von der Alternative Gehirnschmelze oder Hirnerweichung. Das eine, wie gesagt, eher pathologischer Befund, das andere visionär fast im schopenhauerschen Sinne. Ob Alice Schwarzer das überzeugt hätte? Aber das Schlimme an den Aufklärern ist ja ihre Hochachtung vorm Bewusstsein. Es ist ihr gleichsam definitiv amusischer Punkt. Gehirnschmelze kann hier nur eins bedeuten: Ende der Aufklärung. Das Zweitschlimmste an den Aufklärern ist ihre Direktheit. Aus „Nomiso ga tokero kurai“ in seinen bereits diskutierten beiden Übersetzungsmöglichkeiten wird bei Schwarzer: „gut gefickt“ oder „schlecht gefickt“. Ein aktives Urteilsgeschehen! Alice Schwarzer „Was der Angreifer (MRR) unter ,gut gefickt‘ versteht, schildert er sodann mit folgender Szene.“

Reich-Ranicki: „Die Frau steht oben auf einem Balkon und der Mann unten. Der Mann guckt rauf und sagt: Ich will dich!“ Fällt uns denn nichts auf? Die Frau steht oben und der Mann unten! Alice Schwarzer ist trotzdem verstimmt. Vor allem aber – hier wird weder „gut gefickt“ noch „schlecht“, sondern gar nicht. Diese Szene schildert eine definitive Verzögerung. Eine akute Leerstelle des Akts, jenseits von Gut und Böse, wie Nietzsche sagen würde.

Nietzsche! Übermorgen ist er 100 Jahre tot. Wagen wir zu sagen, woran er gestorben ist? An Gehirnerweichung. Oder Gehirnschmelze, wie man will. Hat zehn Jahre gedauert. Natürlich bewegt uns an dieser Stelle die Frage: Lohnt denn das?

Wählen wir zuerst den Bildungsansatz. In einem im Frühjahr erschienenen Roman begegnen wir gewissermaßen der Zuspitzung des „Nomiso ga tokero kurai“. „Fick mich zu Tode!“, heißt es da. Sagt er zu ihr. Der Mann zur Frau. In Wolfgang Hilbigs „Das Provisorium“. Ein sehr ernstes, ein schreckliches Buch. Eine Selbstsezierung bei lebendigem Leibe. Fastfoodferner geht es nicht. Warum hat man nicht Alice Schwarzer ins „Literarische Quartett“ geholt? Vielleicht ist Alice Schwarzer nur Alice Schwarzer geworden, weil sie niemals solche Stellen interpretieren musste.

Nietzsche wäre da eine gute Schule. Natürlich, er gilt als der gemeinste aller Frauenfeinde. Aber Nietzsche und Alice Schwarzer haben auch viel gemeinsam. Beide dachten immerzu über den Willen zur Macht nach. Sie könnten jenes „Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!“ immerhin prophylaktisch aus dem Gespräch ausklammern. Wahrscheinlich wäre es auch schwer, zwischen beiden einen Konsens über den Satz „Alles am Weibe hat eine Lösung: sie heißt Schwangerschaft“ herzustellen. Aber warum überhaupt über solche Sätze richten? Warum Nietzsche sie abnehmen? Er muss damit leben, dass wir sie immer noch kennen.

Und warum Alice Schwarzer die ihren abnehmen? 1. Frauen sind Fremde. Sie gehören nicht dazu in der Mensworld, schreibt sie. Und dass 2. die Sexualität eine Männerwaffe sei. Seit 4.000 Jahren. Und dass es, 3., immer die Frauen am härtesten trifft, die nicht damit rechnen. – Kann schon sein. Lou von Salomé, Nietzsches vergebliche Liebe, hat auch nicht damit gerechnet, dass er sie nachher als „übelriechende Äffin mit ihren falschen Brüsten“ antiteln würde. Und dennoch war sie die Erste, die ein noch immer lesenswertes Buch über ihn schrieb. Eines, das ihn verstand. Da liegt der Unterschied. Verstehen heißt vor allem anerkennen, dass es immer mehr als nur eine Wahrheit gibt. Wären Nietzsches Sätze über die Frauen der ganze Nietzsche, wir hätten ihn längst vergessen.

Es gibt viele Nietzsches – aber nur eine Alice Schwarzer.

Woran liegt das? Nietzsche hätte das „Nomiso ga tokero kurai“ – trotz seines Schreckens vor dem Wort „Gehirnerweichung“ – sicher sofort verstanden. Schon weil er die Musik verstanden hat. Weil er den „Tristan“ hörte und mitten im Konzertsaal das unabweisbare Bedürfnis verspürte, „unter einem krampfartigen Ausspannen aller Seelenflügel zu veratmen“. Was ist das? Ein handfester Musikorgasmus! Rüdiger Safranski hat soeben den ganzen Nietzsche aus dem Geiste des Musikorgasmus erklärt. Wir plädieren dafür, diese Sonderform probehalber in die Geschichte der Sexualität aufzunehmen und jetzt noch einmal Alice Schwarzers Satz zu überprüfen, wonach die Geschichte der Sexualität seit 4.000 Jahren eine Geschichte der Sexualgewalt sei. Irgendwas fehlt da. Wenn Alice Schwarzer über Sexualität spricht, ist das, als würde jemand einen Bergführer schreiben und sämtliche Gipfel weglassen. Sie schreibt eine Geschichte der Täler. Natürlich, es gibt sie. Aber wer das Tal zur absoluten Wahrheit des Gebirges erklärt, hat sich mit einer permanenten Horizontverstellung abgefunden. Man sieht nicht gut in Tälern. Nicht die Verbindung von Eros und Thanatos, nicht die Übergänge von Sexus und Kunst. Ist Kunst nicht eine Art Ersatzhöhepunkt? Und wir begreifen auch gleich viel besser, warum MRR die Langeweile als absoluten Maßstab für die Literatur eingeführt hat. Weil es, schon mal rein physiologisch gesehen, gar keine langweiligen Orgasmen gibt.

Viele Nietzsches – aber nur eine Alice Schwarzer. Vielleicht kommt es darauf an, sie zu verdoppeln. Die Alice-Schwarzer-Wahrheit ist unverlierbar. Aber absolut genommen, macht sie das Leben arm. Im Alice-Schwarzer-Universum gäbe es keine Musik, keine Dichtung, keine Sehnsucht.

Wahrheiten sind dazu da, sie zu denken und wieder loszulassen. Vielleicht forderte Nietzsche deshalb, die Gedanken müssen tanzen. Der Feminismus könnte von Nietzsche die Perspektive lernen.

Hinweise:Ist Gehirnschmelze nicht beinahe eine metaphysische und damit auch poetische Vision?Nietzsche wäre für manchen Interpreten eine gute Schule. Er gilt als der gemeinste Frauenfeind