Wir sind die Schiedsrichter

Wenn es zu Hause oder in der Schule nicht richtig klappt, ist die Erziehungsberatung oftdie erste Anlaufstelle. Hier werden erst einmal die Regeln geklärt. Für Eltern und Kinder

von JULIA NAUMANN

Chaos schon morgens um halb acht. Der zwölfjährige Martin macht noch schnell seine Matheaufgaben am Küchentisch und stößt dabei die Milchflasche um. Seine Mutter rastet aus. Schreit ihn an, er sei ein Nichtsnutz, und er werde sowieso sitzen bleiben. Martin schweigt, nimmt seine Sachen und verlässt die Wohnung. In die Schule geht er heute nicht, wie an so vielen anderen Tagen auch. Die Mutter, frustriert, plagt sich mit Schuldgefühlen.

Wenn Eltern nicht mehr weiterwissen, wenn die Kommunikation zwischen Kind und Eltern nicht mehr funktioniert, wenn Erziehung sich aufs Anschreien, Schlagen oder schlicht Anschweigen und Ignorieren beschränkt, dann kann die Erziehungsberatungsstelle ein Ausweg sein. Sie ist der Klassiker unter den Erziehungshilfen – ohne großen behördlichen Aufwand, auf Wunsch anonym und mit einer Viefalt von Angeboten.

„Wir sind wie die Allgemeinmediziner“, beschreibt Ulf Martens, Leiter der psychosozialen Dienste in Berlin-Zehlendorf seinen Job. Er behandele ein „Breitband von Familienproblemen“. Das kann von Einschlafstörungen von Babys, über die Unregierbarkeit von Kleinkindern bis zu Pubertätskrisen von Jugendlichen und Trennungswünschen der Eltern gehen. Die „Doktoren“, die in Berlin in jedem der 23 Bezirke sitzen und jährlich insgesamt dreizehntausend Familien betreuen, sind Psychologen, Sozialpädagogen und Familientherapeuten. Ihr Klientel ist gemischt und entspricht der sozialen Lage des Viertels. „Rund die Hälfte unserer Klienten sind arbeitslos oder Sozialhilfeempfänger“, zählt Jürg Huber von der Erziehungsberatungsstelle in Berlin-Kreuzberg auf. Dort sind rund dreißig Prozent der Einwohner nicht deutscher Herkunft; die Arbeitslosigkeit ist überdurchschnittlich hoch. Im ruhigen Zehlendorf im Süden der Stadt kommen dagegen eher die Bürgerlichen – vom Busfahrer bis zur Angestellten einer Werbeagentur.

Die Probleme, da stimmen die beiden Erziehungsberater überein, seien trotz der unterschiedlichen Milieus sehr ähnlich: Trennung der Eltern, Stress in der Schule und Pubertätskrisen. „Die Ängste und Hilflosigkeiten sind die gleichen.“

In der Beratungstelle können die Eltern auspacken: „Hier haben sie die Möglichkeit, ehrlich zu sein“, sagt Jürg Huber. Das klingt fast väterlich, aber als solche verstehen sich die Berater auch in vielen Fällen. „ Manche betreuen wir über Jahre hinweg und sind dabei der einzige erzieherische Kontakt“, weiß Huber. Familienberater Ulf Martens beschreibt sich als „Schiedsrichter“, der die „Erziehungsregeln kennt“. Und die werden häufig nicht eingehalten, sowohl von Eltern-, als auch von Kinderseite nicht. Um diese neu zu definieren, müsse man in aller erster Linie zuhören: Sich den Frust von der Seele reden, ist der wichtigste Schritt.

Sind die Probleme erst verbalisiert, gibt es viele Möglichkeiten, dem Konflikt zu begegnen. Das kann die Strategie sein, sich gegenüber dem Kind oder Partner mal ganz anders zu verhalten. Anstatt sich ständige Meckereien anzuhören und dabei selbst die Kontrolle zu verlieren, sollten Eltern versuchen ruhig und gelassen zu anworten. „Es gibt 33 Wege, das Kind darum zu bitten, den Mülleimer runterzubringen. Man muss es nur ausprobieren“, sagt Martens. Er versucht, den Experimentiergeist der Eltern anzuregen.

Zu den „Erziehungsregeln“ gehört auch, den Eltern die Ängste und Unsicherheiten zu nehmen, was Erziehung überhaupt ist und was sie für den Einzelnen bedeutet. Der Erziehungsauftrag hat sich in den letzten Jahrzehnten rapide verändert, und die Öffentlichkeit hat immer höhere Ansprüche. Vor 150 Jahren war das anders. Da ging es, jedenfalls in Europa, hauptsächlich darum, das Kind zu ernähren, zu kleiden und in die Kirche zu schicken. Liebe, Fürsorglichkeit, Spiel und Spaß waren nicht von Belang – Pädagogik war kein Thema. Heute müssen sich Eltern einem Berg von Anforderungen stellen: auf Elternabenden über gesunde Ernährung diskutieren, zwischen den Teletubbies und Pokémons im Fernsehn auswählen und verstehen, wer Eminem ist. Oder sie haben einfach die banale Angst, dass das auf dem Schulweg Kind überfahren werden könnte.

Wenn obendrein die eigene Beziehung im Argen liegt, wenig Selbstbewusstsein da ist, der Job anstrengend ist oder die Arbeitslosigkeit drückt, dann sind Eltern schnell überfordert. Das kann in beide Richtungen ausschlagen. In ein unerträgliches Maß an Fürsorge und Verwöhnen oder in Rückzug, der in Apathie oder gar Verwahrlosung enden kann. Um wieder ein Gleichgewicht zu finden, versuchen die Erziehungsberater die Rolle der Eltern zu stärken. Eltern sind oft zwischen Schuldgefühlen und ihren eigenen Bedürfnissen hin und her gerissen, und das Kind fängt diese Signale der Unsicherheit auf. Doch das ist fatal: „Eltern dürfen kein schwaches Bild vermitteln“, ist Martens überzeugt. Eltern müssten „die Richtlinienkomptenz über das Kind behalten“, sagt er etwas bürokratisch, sonst machten sie ihren Erziehungsauftrag kaputt.

Grenzen können nur durch Eindeutigkeit gesetzt werden. Hier baut der Familientherapeut auf das eher traditionelle Rollenverständnis. Wenn der Vater sich ständig nur als guter Kumpel verkauft, und es ablehnt, sich Papa, sondern „Andreas, Martin oder Christian nennt“ und damit unverbindlich bleibt, dann sei das nicht besonders fördernd, glaubt Ulf Martens. „Kinder finden eine klare Mutter- oder Vaterrolle gut.“

Martens plädiert für einen Mittelweg, einerseits Verantwortung und Respekt, anderseits aber auch eine offenene Partnerschaft zwischen Kind und Eltern anerkennen, so wie sie die antiautoritäre Erziehung durchgesetzt hat. Er kritisiert, dass es derzeit keine Diskussion gebe, was Elternschaft überhaupt ausmacht. „Es herrscht eine ganz große Unsicherheit und Angst darüber in der Gesellschaft.“

Und das Rollenverständnis ist immer noch ungleich: Martens bemängelt, dass Männer häufig ein „reduziertes Erzeugerbewusstsein“ hätten – trotz eines Kindes nicht aus ihrem Junggesellenstatus herauswollten und mehr auf das Singledasein programmiert wären. Männer fühlten sich häufig als ewiger Geliebter der Frau, aber nicht als Vater. Die Konsequenz: Sie sind oft sehr unsicher, wie ein Kind erzogen werden muss und halten sich deswegen eher heraus. So müssten in den Sitzungen die Männer ermutigt werden, die Vaterrolle stärker anzunehmen, Frauen dagegen bestärkt, nicht die Supermutter mit dem „Rundumservice“ zu sein.

Alleinerziehende Frauen haben mit dieser Überforderung insbesondere zu kämpfen, denn sie versuchen häufig, Vater und Mutter zu verkörpern. In den Gesprächen wollen die Berater das Muttersein auf das „Machbare reduzieren“. Alleinerziehend zu sein, bedeute nicht automatisch, dass das Trennungskind unter psychische Störungen leiden wird. Das werde lediglich von gesellschaftlichen Vorurteilen ventiliert, ist Martens überzeugt.

Eine steigende Verwahrlosung der Kinder insgesamt und einen damit verbundenen, abnehmenden Erziehungswillen der Eltern können die beiden Berater in ihren Sitzungen nicht ausmachen. Der häufig propagierte „Werteverfall“ sei auf eine schiefe Sicht zurückzuführen. „Die traditionelle Familienordnung spielt nicht mehr so eine große Rolle“, sagt Martens. Dafür seien aber neue Werte hinzugekommen, wie eine demokratischere Partnerschaft und der offene Umgang mit Kindern.

Auch Glotze, Gameboy und Computer sind nach Ansicht der Experten keine ernsthafte Bedrohung für die Kinder oder ein Zeichen für den Verfall der erzieherischen Werte. „Die Technikbegeisterung ist absolut zeitgemäß“, ist Martens überzeugt. Vor dreißig Jahren hätten Jugendliche stundenlang an ihrem Moped herumgebastelt oder Perry Rhodan gelesen. Das sei vergleichbar. Wenn Computerspiel oder Fernsehen allerdings überhand nähme, dann hat er ein einfaches Mittel parat: „das Kind oder auch die ganze Familie auf Computerdiät setzen“. Doch das trauten sich viele nicht zu. „Die Eltern haben Angst, dass die Kinder dann einen Aufstand machen.“ Soll die ganze Familie eingebunden werden, wüssten sie häufig nicht, was sie mit der freien Zeit anfangen sollen.

Wenn Kinder verhaltensauffällig werden, aggressiv oder gar gewalttätig, dann macht die Öffentlichkeit neben den Eltern die Schule für das Versagen verantwortlich. Doch auch diese werde überstrapaziert. „Die Schule darf sich nicht überfordern“, sagt Martens. Dass ein Lehrer nur gute Arbeit leistet, wenn er ein guter Therapeut ist, sei falsch. Der Lehrer solle in der Lage sein, Verhaltensauffälligkeiten mit schulischen Mitteln zu begegnen. Auch hier gehe es um das Durchsetzungsvermögen und ein selbstbewusstes Rollenverständnis. Die Schule könne Fehler in der elterlichen Erziehung höchstens auffangen, nur schwer beheben. Wichtig sei, dass die Lehrer wüssten, wo das Kind Hilfe bekommen kann. „Viele kennen das soziale Netz nicht“, kritisiert Martens.

Wer letztendlich für eine gelunge Sozialisation der Kinder verantwortlich ist, ist ohnehin wissenschaftlich umstritten. Werden die Kinder doch von den elektronischen Medien regiert, liegt es gar an der Geschwisterreihenfolge oder am Einzelkindsyndrom, wie die Pubertät eines Kindes verläuft, oder sind die Freunde und die „peer-group“ die wichtigsten Einflussfaktoren für die spätere Zukunft?

JULIA NAUMANN, 31, ist Redakteurin in der Berlin-Redaktion der taz