Besetzer und Nähmaschinen

Das Kreuzberg Museum präsentiert die Geschichte des „Kerngehäuses“ in der Cuvrystraße. Lange vor der Besetzung 1980 wurden dort auch Waffen produziert

Zwei Wohngemeinschaften gibt es noch im Kreuzberger Kerngehäuse, die anderen wohnen ganz klassisch als Singles oder Familien

Sie heißen Gloria, Regina, Jutta und Gesa und sind rosa, blau und hellgrün. Die Kindernähmaschinen der größten Kindernähmaschinenfabrik der Welt. Etwa 400 Nähmaschinen, fast die gesamte Produktionspalette der Firma F. W. Müller jr., sind ab heute im Kreuzberg Museum in der Adalbertstraße zu sehen.

Gezeigt wird die Sammlung, die fast die gesamte Kollektion des Betriebes umfasst, von Manfred und Rita Koym. Zu sehen sind außerdem Dokumente und Fotos der Firmengeschichte und des Fabrikgebäudes in der Cuvrystraße 20 – 23. Das sind zum Beispiel Fotos von langhaarigen HausbesetzerInnen, die den Häuserkomplex nach dem Konkurs der Firma 1980 besetzten und „Kerngehäuse“ nannten. Das Jubiläum der Besetzung ist Anlass für einen Rückblick auf zwanzig Jahre Wohnen und Arbeiten in einem Kreuzberger Hinterhof.

Die Idee, Kindernähmaschinen herzustellen, entstand aus der Produktion von gusseisernen Reisenähmaschinen, die kleiner als gewöhnliche Nähmaschinen waren. Um den Mädchen des ausgehenden 19. Jahrhunderts ihre zukünftigen Tätigkeiten im Haushalt schmackhaft zu machen, wurden kleine, leichtere Nähmaschinen produziert. Die Füße der meist handbetriebenen Maschinen sind oft nur 20 Zentimeter lang und 10 Zentimeter breit. Die Modelle aus Holz, Bakelit, Metall und Gusseisen waren vor allen Dingen im Ausland sehr beliebt. Etwa 90 Prozent der „Sew master“ wurden in die USA exportiert.

In der 1882 gegründeten Kreuzberger Firma wurden zwischen 1900 und 1914 jährlich etwa 350.000 bis 400.000 Kindernähmaschinen produziert. 600 Arbeiter waren während dieser Zeit in der Cuvrystraße beschäftigt. Während des Krieges, als Metall für die Kriegsproduktion benötigt wurde, gab es die Nähmaschinen lediglich aus Holz und Bakelit. Als 1941 der Verkauf von Spielzeug verboten wurde, produzierte die Firma auch Waffenteile.

Auch wenn der Betrieb sich in den Nachkriegsjahren noch mal aufrappelte, war die Blütezeit der Nähmaschinenfabrik vorbei. Nähen wurde unmodern, und die Billigimporte aus asiatischen Ländern konkurrierten. Auch die Erziehung und das Spielverhalten der Mädchen führten zu sinkender Nachfrage. Ende der 70er-Jahre kündigten die amerikanischen Geschäftspartner die Verträge, und kurz drauf meldete das über hundertjährige Unternehmen Konkurs an.

Nur wenige Monate standen die Hallen leer. Ihren Abriss konnten die BesetzerInnen mit der Instandbesetzung verhindern. Das „Kerngehäuse“ gehörte neben dem Mehringhof in der Gneisenaustraße, der UFA-Fabrik in der Viktoriastraße und der Regenbogenfabrik in der Lausitzer Straße zu den alternativen Modellprojekten, die Ende der 70er-und Anfang der 80er-Jahre in Westberlin entstanden. Alternatives Leben und Arbeiten fand nun in der alten Nähmaschinenfabrik statt.

Derzeit wohnen 44 Erwachsene und 16 Kinder und Jugendliche im Kerngehäuse. 16 Erwachsene sind seit Besetzerzeiten dabei und 12 von ihnen arbeiten auch in der Cuvrystraße. So haben die ehemaligen BesetzerInnen ihr Ideal vom gemeinsamen Wohnen und Arbeiten weitgehend verwirklicht, auch wenn nur noch zwei größere Wohngemeinschaften existieren. In den übrigen Wohnungen leben Singles, Paare und Familien, ganz klassisch.

Neben Druckerei und zwei Schreinereien befinden sich in den malerischen Hinterhöfen mit individuell gestalteten Balkonen und einem kleinen Teich das Ratibor-Theater, ein Taxibetrieb und die Sprachschule Babylonia. „Das Leben und Arbeiten in einem Haus ist spezifisch für Kreuzberg“, sagt Helga Lieser, Gestalterin der Ausstellung. So war es früher und so ist es heute im Kerngehäuse immer noch.

Mit der „Langen Nacht der Kindermaschinen“ wird die Ausstellung heute um 19 Uhr im Kreuzberg Museum, Adalbertstraße 95 a eröffnet. Zu dem Revueprogramm in den Ausstellungsräumen und im Garten des Museums gehört die Uraufführung eines Konzertes für Kindernähmaschinen und der Auftritt der ehemaligen Hausbesetzerband „Pille-Palle und die Ötter-Pötter“. Zur Ausstellung erscheint außerdem ein Buch über die Geschichte des Kreuzberger Gewerbehofes. MAJA SCHUSTER