Die langen Tage mit Sara in Barcelona

Die Zeit läuft zu Fuß in der Metropole Kataloniens und mit ihr der Schriftsteller. Ohne Metro-Karte und Reiseführer wird er zum leidenschaftlichen Flaneur. Er lässt sich treiben und manches Mal auch führen. Und unter den Blicken der anderen verschenkt er sich der Gegenwart des Augenblicks

von RAJVINDER SINGH

Ich spüre eine angeborene Neigung – ja, nahezu den Drang – in mir, das Unbekannte zu erkunden. Um so verwunderlicher ist die Tatsache, dass ich in mir oft eine Art Resistenz entdecke, diese Erkundungsreisen dann auch rasch in Angriff zu nehmen. Die Folge ist: Ich neige dazu, diese immer wieder hinauszuschieben. Mit Barcelona war dies auch der Fall, obwohl es doch verglichen mit all den Ländern und Städten, die ich bislang bereist habe, gleich um die Ecke lag.

Die erneute Rückkehr

Barcelona war schon immer um mich herum – zum Teil aber auch in mir drin – durch die Schriften von García Lorca, Orwell, Pieyre Mandiargues, Bataille und Genet, aber auch durch Burgess, García Marquez, José Donoso und Vargas Llosa. In die vielschichtige Hauptstadt Kataloniens und das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum Spaniens bin ich seit dem Herbst 1999 bereits dreimal zurückgekehrt. Und während diese Zeilen gedruckt werden, befinde ich mich schon wieder in Barcelona.

Reiseorte, die wir besuchen, insbesondere aber Städte, liefern uns keine vollendeten Tatsachen über ihr Wesen, welche wir konsumieren können wie vorgefertigte Gebrauchsartikel. Vielmehr sind sie Summe der Erfahrungen, die sich im Laufe der Annäherung wie ein Zwiegespräch zwischen dem Ort und dem Besucher herausbilden. Daher erlebt der Mensch jeden Ort ganz individuell. Für mich stellt jede Stadt ein Buch dar.

Im Bierlokal

Seit zwei Tagen befinde ich mich nun in Barcelona und lese die „Stadt der Wunder“ – so wurde sie von den Zeitgenossen Eduardo Mendoza und Robert Hughes bezeichnet – nach und nach wie einen Roman. Sie ist seit der Wiederherstellung der Demokratie aus einem Schlaf erwacht. Ich sitze mit Ramon Farrés, meinem Übersetzer, in einem Bierlokal auf dem schönen, mit Palmen und Brunnen stimmungsvoll wirkenden Plaza Reial, dem Königlichen Platz und lasse mir erklären, dass die ehemalige Hochburg der spanischen Anarchie sich zwar ständig verändert, aber dennoch sie selbst bleibt. Ramon, selbst ein Katalane, erzählt mir, Barcelona sei weder spanisch noch europäisch. Er erklärt mir: „Barcelona liegt für die nicht-katalanischen Spanier nördlich von Spanien. Umgekehrt verstehen sich aber die Barcelonier selbst eher als eine südlich von Europa lebende Kultur, die ihre eigene Individualität pflegt.“ Während Ramon spricht, schaue ich den französisch wirkenden, architektonisch geschlossenen Platz an. Doch ich höre weiter zu. „Stark in ihrer Tradition verwurzelt ist sie avantgardistisch, die aber auch Utopien pflegt. Dies begreift man, wenn man sich Gaudi, Dalí, Miró, Tapies und den jungen Picasso vor Augen hält.“

Am Morgen des nächsten Tages bin ich allein unterwegs. Neuland, wieder einmal. Ich bin ortsunkundig, möchte mir jedoch bewusst keinen Reiseführer zulegen oder darüber die Literatur nachschlagen. Die Lust, das Unbekannte Schritt für Schritt für mich zu entdecken ist groß. Sie allein trägt meine Füße nach vorn. Die Metro-Karte und die Liste der Sehenswürdigkeiten habe ich mit Absicht im Hotel gelassen. So kommt es, dass ich nur mit einem Stadtplan ausgestattet ein leidenschaftlicher Stadtspaziergänger werde. Die zum Meer hin schauenden alten Bezirke, mit ihrem Gewirr von Gassen, entfalten sich wie einzelne Kapitel eines Romans.

Auf dem Flanierboulevard Las Ramblas, der im Herzen der Altstadt liegt und buchstäblich das Rückgrat der Stadtbezirke Ciutat Vella, El Raval und La Ribera von Barcelona bildet, bin ich immer wieder unterwegs. Links und rechts schaue ich mir die Gebäude an, in denen Orwell, Kopp und andere Intellektuelle während des spanischen Bürgerkriegs die Stadt verteidigten.

Am Puls des Tages

Hier auf den Ramblas findet Tag für Tag eine mit Musikern, Malern und andern Straßenkünstlern durchgehende Vorstellung statt. Nur wechseln sich dabei keine Szenen ab, sondern die Betrachter. Diese laufen in Scharen auf und ab, um zur Kolumbussäule und zum Hafen oder zum Plaza Catalunya zu gelangen. Hier pulsiert zu jeder Tageszeit das eigentliche Leben, und ich bin wie ein kleiner Junge von dieser Jahrmarktsatmosphäre fasziniert. Die Altstadt mit römischen Barri Gotic und Plaza Catalunya bilden den Kernpunkt meines Aufenthalts. Hierher kehre ich immer wieder zurück. Auf der Terrasse des Café Zürich am Plaza Catalunya sitzend genieße ich die sich allmählich verabschiedende Pracht der Sonne und beobachte gelassen, doch aufmerksam, den vor mir langsam auf und ab fließenden Menschenstrom. Ich höre das Summen verschiedener Sprachen und sehe die dazu passenden Gesichter. Sie erhellen mein Gemüt. Es sind nicht nur die Touristen, sondern auch die Einheimischen, die das kosmopolitische Lebensgefühl der Barcelonier zum Ausdruck bringen.

Barcelona ist ständig unterwegs, in jeder Hinsicht. Ich bin von dieser Atmosphäre so eingewölkt, dass ich mein Notizbuch aufschlage und darin zu schreiben beginne: Das Gewesene und die Gegenwart, die Beine, mit denen ich mich bewege, Gedächtnis und Gedanken, die Augen, mit denen ich sehe, meine Lippen reden von Freude, auch von Leid – unterm Himmelszelt. Ich suche mich nicht, ich verliere mich hier, gewollt, und sublimiere, gern in den Blicken anderer verschenke ich mich der Gegenwart dieses Augenblicks.

Das moderne Leben der Metropolen ist reich an Allegorien, die sich in ihrer konnotativen Vermittlung der urbanen Botschaften immer mehr ähneln. Ich aber lechze danach das Besondere, das Ungewöhnliche herauszufischen. Ich laufe durch die engen, lebendigen Gassen und treffe im Translit-Büro vom alle zwei Jahre stattfindenden Literaturfestival, das mich nach Barcelona eingeladen hatte, die zierliche Schauspielerin, Sara Sender. Seit 16 Jahren, seitdem sie ihr Elternhaus verlassen hat, lebt sie in der Altstadt. Sie führt mich zu einer alten, in der malerischen Gasse Sant Domenech del Call gelegenen Teestube. Eine uralte, finster wirkende Stube, mit zu vielen Tischen und Stühlen, die kaum noch Raum zum Vorbeigehen übrig lässt. Die alternativ-intellektuell angehauchte Bedienung scheint Sara zu kennen. Diese bestellt für mich Darjeeling, für sich selbst „Infusion“. So heißt hier der Kräutertee. Wenn Sara spricht, kann ich selbst ihren Atem hören, so klein sind die Tische. Sie ist genauso wissenshungrig wie ich. Die Begegnung mit ihr lässt mich vieles in mir wiedererkennen, das mir bisher verborgen geblieben war.

Der Geruch der Stadt

Jede Reise ist ein Unterwegssein, um den Wissensschatz der Menschheit zu entdecken. Was man dabei jedoch tatsächlich entdeckt, sind innere Reichtümer. Dies hat auch Sara, die gebürtige Barcelonerin, erfahren. Auf der Suche nach ihrer Seele, nach der „Seele der Welt“ ist sie in Asien, Afrika und Lateinamerika unterwegs gewesen. Sara hat nach all den Reisen sich selbst und ihre geliebte Stadt wieder entdeckt. „Wenn ich jetzt durch die Straßen und Gassen laufe“, sagt sie tief in meine Augen schauend, „rieche ich die ganze Welt in Barcelona.“ Sie erzählt von dem Geruch arabischer, indischer und afrikanischer Gerichte in den Gassen und spricht von Indern und Pakistanern, die in ihren auf den Ramblas gelegenen Geschäften die traditionellen Souvenirs aus Spanien und Lateinamerika verkaufen. Das findet sie schön und lacht darüber. „Das alles hätte ich wohl nicht so schätzen können, wenn ich nicht tatsächlich in vielen Teilen der Welt unterwegs gewesen wäre.“

Freitagmorgen. Ich bin zeitig aus dem Hotel. Die kühle Meeresbrise wird durch die Sonne erfolgreich gekontert. Mich beschäftigen Sara und ihre Stadt Barcelona. Ziellos laufe ich hin und klingele bei Sara. Im Morgenmantel noch erscheint sie auf dem Balkon ihres Apartments. Wir verabreden uns für das Mittagessen.

Wir hatten keinen Treffpunkt ausgemacht und stoßen zufällig vor dem Plaza de Sant Jaume aufeinander, wo Generalität (Sitz der Regional Regierung) und Ajuntament (Rathaus) sich gegenüber stehen. „Vor langer Zeit habe ich mal Juan Goytisolos ;Fiesta‘ gelesen, in dem er das historische Barcelona schildert. Ich dachte, ich könnte das hier finden“, bemerke ich, um das Gespräch zu beginnen. „Da gehen wir auch hin“, sagt sie knapp und winkt mit der Hand. Mitten durchs Barri Gotic laufen wir Richtung Westen, um zur Passage de Gracía, einer modernen Geschäftsstraße, zu gelangen. Noch in der Altstadt, packt Sara mich auf einmal am Arm und biegt links in eine Sackgasse, die in der Abgeschiedenheit der engen, sie umgebenden Gebäude den romantischen Plaza de Sant Felipe Neri beherbergt. „Wenn du die Barock- und die Renaissancemusik magst, musst du Ende April wieder hier sein. Dann findet hier auf diesem Platz an einem Wochenende das Festival der Ancient Musik statt, ohne Eintritt“.

In Orpheus’ Bücherwelt

Der Platz, an dem sich einst ein Friedhof befand, liegt vor einer alten Kirche, deren Fassaden heute noch die Spuren des Bürgerkriegs aufweisen. Als wir in der Straße Pau Claris ein Bücherladen betreten, bin ich verblüfft, als Sara sagt: „So, zuerst können wir essen, und uns dann nach deinem Buch erkundigen.“ Wie in Cocteaus ,Orphée‘, in der Orpheus die Unterwelt betritt, erreichen wir durch eine Hintertür das Café-Restaurant, das zum Bücherladen gehört. Ich bin von der Idee begeistert. Später, auf dem Rückweg spreche ich immer noch von der sinnlichen Mischung aus Büchern und Gastronomie. Sara sagt: „Übermorgen, am Sonntag, könnte ich dich zum Sant-Antoni-Markt begleiten. Das ist eine Markthalle, in der von Montag bis Samstag Gemüse und Fleisch verkauft wird. Nur am Sonntag verkauft man Bücher.“

Nach einer Woche bin ich für die Rückkehr nach Berlin reif. Sara zeigt mir zum Abschied die alten, historischen Plätze, die ich zwar aus Goytisolos ,Fiesta‘ zu kennen glaube, aber bislang nicht gesehen habe. Sie zeigt mir die Reste der römischen Mauern, den Tempel Jupiters und viele alte Plätze, wo die Geschichte der vergangenen Jahrhunderte wach gehalten wird. Mein Abflug rückt näher, und ich muss von Sara und Barcelona Abschied nehmen. „Alles, was du dir in der historischen Stadt anschaust“, sagt sie, „führt dich in die Vergangenheit zurück, entzieht dich aber nie der Gegenwart. Das ist mein Barcelona.“ Sara hat eine besondere Art, sich zu verabschieden.