Das schöne Leben

DIE NEUEN UTOPIEN (10 und Ende): Die Lebenskunst ist ein zu erneuerndes philosophisches Konzept, das über Zeiten der Desorientierung hinweghelfen kann

Man kann fragen, ob einLeben ohne Orientierungan Schönemüberhaupt möglich ist

Lebenskunst ist das, was übrig geblieben ist nach dem Ende der großen Entwürfe zur Beglückung der Menschheit: Die Rückkehr zum Selbst, zum einzelnen Individuum, das neu damit beginnt, sich selbst zu gestalten, das Leben zu gestalten und nicht die alten Illusionen zu hegen. Lebenskunst, das ist die Renaissance des Individuums, das einst, zu Zeiten der großen Utopien, in der Apotheose der Gesellschaft unterzugehen drohte und das nun gezwungen ist, in der Zeit der Abwesenheit großer Hoffnungen sein Leben selbst zu führen.

Die Selbstgestaltung des Individuums führt zu jenem Begriff, der von Michel Foucault im Umfeld seiner Arbeiten über die antike philosophische Lebenskunst formuliert worden ist und der so außerordentlich viel Interesse auf sich gezogen hat: Ästhetik der Existenz. Der Begriff vereint eine Reihe von Aspekten in sich, die für den bunt schillernden Eindruck verantwortlich sind, den er macht, die jedoch allesamt für eine reflektierte Lebenskunst unverzichtbar sind. Er meint eine Selbstmächtigkeit, eine selbstreflexive Macht, die das Selbst auf sich wendet und die es in reflektierter Weise auch nach außen, gegen die Bevormundung durch heteronome Mächte zu wenden weiß. Ästhetik der Existenz meint ferner die Arbeit an der kunstvollen Gestaltung der Existenz, durch die das Leben selbst zum Kunstwerk wird, vollzogen gemäß einer eigenen Wahl, um dem Leben Form und Stil zu geben und eine Existenz des Maßes zu verwirklichen.

Mit seiner Wahl setzt das Selbst die Maxime in Kraft, die seine ethische Haltung begründet und seinem Verhalten die Regel gibt, um so sein Leben zu gestalten. Die Ästhetik der Existenz wird damit zur Selbstgesetzgebung, zur „Autonomie“ im Wortsinne; das Subjekt begründet sein Sollen selbst. Die Wahl ist keine beliebige Wahl, sondern beruht auf der Erlangung von Urteilskraft, diese wiederum bedarf einer Sensibilität für die Zusammenhänge, auf die es jeweils ankommt und die zu berücksichtigen sind. So wird wohl kaum noch zu behaupten sein, eine Ethik sei auf Ästhetik nicht zu begründen: Worauf sonst wäre sie zu begründen?

Für Foucault bestand die Ästhetik der Existenz aber vor allem darin, der eigenen Existenz das „Profil einer sichtbaren Schönheit“ zu verleihen. Der Existenz sollte man die Form geben, die die „schönstmögliche“ ist, und man sollte selbst die Arbeit leisten an der „Schönheit seines eigenen Lebens“. Keineswegs, so zeigt sich beim Blick auf die Geschichte, kann Foucault als Erfinder des Begriffs vom „schönen Leben“ gelten, vielmehr steht er in der langen Tradition des Humanismus, der auf diesen Begriff nie verzichten mochte. Und die Tradition reicht zurück bis in die Antike, in der alle Philosophen diesen Begriff gebrauchten. Einer, der sagte, er tauge nicht zur Philosophie, dem antwortete der Kyniker Diogenes: „Wozu also lebst du, wenn du dich nicht darum sorgst, schön zu leben (kalos zen)?“

Es ist erstaunlich, dass die neuere Ethikdiskussion nicht auf diesen Begriff zurückgekommen ist, sondern beim „guten“ und „gelingenden“ Leben stehen blieb. Zur Beantwortung der Frage, was denn unter dem „Schönen“ zu verstehen sei, kann Foucault allerdings nicht herangezogen werden, denn er definierte den Begriff nicht näher. Für die zu erneuernde Lebenskunst lässt sich eine Definition vorschlagen, die sowohl ethischen als auch ästhetischen Bedürfnissen Rechnung zu tragen vermag, in Kraft zu setzen nur durch einen Wahlakt des jeweiligen Individuums: Schön ist das, was als bejahenswert erscheint. Als bejahenswert erscheint es in einer individuellen Perspektive, die nicht von vornherein, ohne klärenden Diskurs, Allgemeingültigkeit für sich beanspruchen kann. Durch die Bewertung einer Handlung, einer Idee, eines Wertes als „bejahenswert“ wird aber eine starke Beziehung dazu hergestellt, die keineswegs die Nichtbeziehung der Gleichgültigkeit ist. Sich um ein schönes Leben zu sorgen meint sodann, das Leben nicht nur dahin zu leben, dem Gesetz der Trägheit folgend, sondern in die Existenz einzugreifen und sie bewusst zum Gegenstand einer Ausarbeitung zu machen.

Bejahenswert kann dabei keineswegs nur das Angenehme und Lustvolle, sondern ebenso das Unangenehme und Schmerzliche sein: Es kann die tiefere und wichtigere Erfahrung mit sich bringen. Die Ästhetik der Existenz umfasst auch das Misslingen, entscheidend ist, ob das Leben insgesamt als bejahenswert erscheint. Das Schöne im Sinne des Bejahenswerten kann enorme Kräfte freisetzen, ja man kann sogar fragen, ob ein Leben ohne Orientierung an Schönem überhaupt möglich ist. Es stellt den Prüfstein dar, an dem das eigene Leben immer wieder im Detail und im Ganzen zu orientieren und zu beurteilen ist. Wenn aber das Leben so, wie es gelebt wird, nicht bejahenswert ist, dann wäre es zu ändern, denn es gibt nur diese eine „Sünde wider den heiligen Geist“: ein Leben zu führen, das nicht bejaht werden kann.

Zu meinen, dies habe zwar unbestreitbar eine persönliche Dimension, erschöpfe sich aber auch darin, trifft die Brisanz des schönen Lebens nicht. Die Ästhetik der Existenz ist auch politisch zum Argument zu wenden, um an gesellschaftlichen Verhältnissen zu arbeiten, die bejahenswerter sein könnten als die verneinten; sie könnten im Gegenzug wiederum eine schönere Existenz ermöglichen. In keiner Weise ist mit der Rede von Bejahenswertem eine Aussage darüber gemacht, ob das Bestehende das Bejahenswerte sei – die Vorstellung von Schönem kann sich vielmehr vom Bestehenden abheben und eine Idee des möglichen Anderen konzipieren. Es war daher nicht sinnvoll, die „Negation“, wie dies lange geschah, zur einzig legitimen Haltung zu erheben und die „Affirmation“, die zweifellos mit Bejahenswertem verbunden ist, als bloße „Zustimmung zur Welt“ von Grund auf zu verwerfen.

Es wird kaum noch zubehaupten sein, eine Ethik sei auf Ästhetiknicht zu begründen

Lebenskunst kann – vor dem Hintergrund der genannten Aspekte – heißen, sich ein schönes Leben zu machen, im Sinne von: das Leben bejahenswerter zu machen und hierzu eine Arbeit an sich selbst, am eigenen Leben, am Leben mit anderen und an den Verhältnissen, die dieses Leben bedingen, zu leisten. Bevor Forderungen an andere oder „die Gesellschaft“ erhoben werden, wäre vorrangig zu fragen: Was bin ich selbst in der Lage zu tun? Die eigene Arbeit kann auf ein Mehr an Ökologie, an Gerechtigkeit zielen, wenn diese Werte grundsätzlich als bejahenswert betrachtet werden. Nicht Träume vom Erreichen idealer Zustände sind dafür maßgebend, sondern vorsichtige Versuche zu Verbesserungen, pragmatische Utopien. Ein Mehr an Gelassenheit, vielleicht Heiterkeit, die nicht mit Fröhlichkeit zu verwechseln ist, kann unter der Arbeit an einem „schönen Leben“ zu verstehen sein. In jedem Fall kommt es darauf an, den Vollzug der Existenz als Argument dafür einzusetzen, nicht nur auf die diskursive Kraft theoretischer Argumente zu hoffen. Darauf zu verzichten hieße, sich entscheidende Ressourcen für die ethische Haltung und die politische Arbeit zu versagen.

WILHELM SCHMID