Das kurze Rauschen im Blätterwald

taz-Serie „Zwischenzeiten“, Teil 6: Noch vor dem endgültigen Untergang der DDR entstanden zahlreiche Zeitungsprojekte. Doch die Konkurrenz der Großverlage aus dem Westen überlebten die meisten nicht – bis auf wenige Nischenprodukte

von ULRIKE STEGLICH

„Am Anfang sind sie nämlich alle gleich oppositionell. Plötzlich sind sie da, die Männer in den dreiteiligen Anzügen. Schwer zu sagen, ob sie von hüben oder von drüben kommen. Die Einheit bahnt sich an.“

Die Männer in den dreiteiligen Anzügen – das waren die Spielverderber. Den Braten hat Ypsilon schon früh gerochen: Bereits im Januar 1990 konnte man diese Zeilen in der gerade gegründeten Frauenzeitschrift lesen, die so ganz anders daherkam als die Brigittes und Petras im Westen. Ypsilon war eine der zahllosen Zeitungs- und Zeitschriftenneugründungen im Osten. Ende 1989, Anfang 1990: Das war die Zeit der großen Euphorie, das kurzzeitige Niemandsland, in dem alle Projektionen und Hoffnungen Platz fanden, ob auf den schnellen Westanschluss oder den eigenen Weg. Der kleinste gemeinsame Nenner war eine allgemeine Umbruchsstimmung.

In den bereits etablierten Medien entdeckten Journalisten ihre neuen Freiheiten. Plötzlich war selbst die Lektüre einstmals verschnarchter Lokal- oder SED-Bezirksblätter interessant. Reporter von „Elf 99“, einem Jugendmagazin des DDR-Fernsehens, zogen durch Wandlitz und zeigten anklagend auf vergoldete Wasserhähne. „Elf 99“ war noch im Frühjahr 89 von den Apparatschiks des DDR-Fernsehens als Waffe gegen die zunehmende Republikflucht der renitenten Jugend erdacht worden. Leider verschwand auch einer der „Elf 99“-Chefs im Sommer via Ungarn gen Westen. Im Herbst wendete sich dann endgültig das Blatt, die Redaktion begriff schnell und mutierte binnen kurzem zum Symbol eines „frechen“, enthüllungsfreudigen Journalismus.

Mit der neuen Pressefreiheit wuchs folgerichtig auch der Blätterwald kräftig. Allein die Zahl der Tageszeitungen in der DDR schnellte binnen kurzem auf mehr als das Doppelte hoch, konstatierte 1997 eine Studie des Bundesinnenministeriums zur Entwicklung der Presselandschaft in den neuen Ländern. Gab es bis zur Wende in der DDR 38 Tageszeitungen – darunter die 15 SED-Bezirksblätter –, so bekamen diese kurz nach der Wende Konkurrenz: Mehr als 40 überwiegend westdeutsche Verlage machten ihnen vor allem mit Lokalzeitungen Druck.

Plattform der Bewegung

Diese Konkurrenz traf auch die diversen Versuche, innerhalb der Noch-DDR-Gesellschaft eigene Verständigungs- und Diskussionsforen zu gründen. Zu einer der wichtigsten Neuerscheinungen „von innen“ gehörte die überregionale Wochenzeitung Die Andere, gedacht als Plattform für die Bürgerbewegung und herausgegeben von DDR-Oppositionellen, die Ende 1989 den Ostberliner Verlag BasisDruck gegründet hatten. Die Andere war die erste unabhängige Zeitungsneugründung 1989 und trug anfangs den Untertitel „Wochenzeitung der ostdeutschen Bürgerbewegungen“.

BasisDruck-Mitgründer Stefan Ret sagte später: „Wir haben versucht, neben Der Anderen weitere Projekte zu ermöglichen. Es gab 1989 eine Menge Leute, die einfach etwas ausprobieren wollten – immer vor dem Hintergrund, dass man ja noch innerhalb der DDR agierte und politische Vorstellungen mit durchsetzen wollte.“

Sowohl professionelle Journalisten als auch Autodidakten stürzten sich in die Arbeit, anfangs für 500 Ostmark monatlich, mit der Aussicht auf einen „taz-Einheitslohn“ – irgendwann. Gehälter konnten erst nach Erscheinen der ersten Nummer gezahlt werden. Die neue Computertechnik ermöglichte unabhängigeres und schnelleres Arbeiten. Furore machte die Zeitung, als sie – nach reiflichem Überlegen – eine Liste der höchstdotierten hauptamtlichen Stasi-Mitarbeiter veröffentlichte. Etwa 10 Prozent des gesamten vorliegenden Materials. „Wir wollten“, sagt BasisDruck- Verleger Klaus Wolfram, „verhindern, dass die Stasi-Akten unter Verschluss beim Bundesinnenministerium landeten.“ Was schlussendlich mit der Gründung der Gauck-Behörde auch erfolgreich war.

Freilich blieben auch die ersten Kräche nicht aus: Das sehr ambitionierte Design einer avantgardistischen Gestaltergruppe, mit dem die auch sonst recht provokante Ypsilon auffiel und das sie zum Sammlerstück machte, war für Die Andere untauglich und musste in letzter Minute ausgewechselt werden.

Dennoch war die Aufbruchsstimmung aus Wolframs Sicht auf eine relativ kleine Gruppe beschränkt – nämlich auf die, „die immer schon aktiv waren“. Seine Versuche, Autoren und Redakteure der Berliner Zeitung für das neue Projekt zu gewinnen, blieben erfolglos – obwohl oder vielleicht gerade weil man dort mit der Übernahme durch einen Westverlag rechnete.

Wenn Zeitungen eine Waffe sind, dann verfügte BasisDruck zeitweise über ein regelrechtes Waffenarsenal: Neben der Anderen und der Ypsilon erschien bald auch Der Anzeiger, ebenfalls eine Wochenzeitung, die sich „links von der Bürgerbewegung“ definierte. Doch mit der Zeit begriffen selbst Außenstehende, dass die Bürgerbewegung nicht homogen und schon gar nicht per se „links“ war. Vielen aus der Bürgerbewegung, resümierte Stefan Ret später, sei schon Die Andere zu links gewesen.

Sogar eine Kinderzeitung wurde bei BasisDruck produziert, allerdings nur sechs Ausgaben, dann wurde das Geld knapp. Immerhin: Das reichte, um Post von Disney aus den USA zu bekommen, die wegen einer Micky-Maus-Karikatur rechtliche Schritte androhten.

Doch auch außerhalb von BasisDruck gab es neue Zeitungsprojekte. In Berlin-Mitte erschien im November 1990 die Nullnummer des scheinschlags, anfangs eine monatlich erscheinende Kiezzeitung und vorbildliches Ost-West-Joint-Venture: Einer der Gründer kam aus Mitte, der andere aus Frankfurt am Main. Im vom Ostrand- zum Zentrumsbezirk mutierten Mitte, das ahnten die beiden Autodidakten, würden nach der Vereinigung beider Stadthälften die Veränderungen am rasantesten und heftigsten vor sich gehen. Scheinschlag sollte in diesem Prozess den Bewohnern als kritisches „Medium von unten“ zur Verfügung stehen.

Handgestrickt

Was auf den ersten Blick abenteuerlich aussah, sollte sich später als durchaus weitsichtig erweisen. Das Thema Stadtentwicklung war langlebig und im weitesten Sinn, von Politik bis Kultur, interpretierbar; die Strukturen waren simpel und handgestrickt: In einem verfallenen, von Besetzern eroberten Hinterhaus wurde im Redaktionszimmer auf vier Minicomputern geschrieben. Auf den Rechnern befreundeter Grafiker um die Ecke wurde nachts layoutet, morgens in der Druckerei selbst montiert. Anzeigen finanzierten den Druck, der Rest war ehrenamtlich. Den Kampf an den vor buntem Papier überbordenden Zeitungskiosken aufzunehmen schien ein von vornherein aussichtsloses Unterfangen – daher wurde ein eigenes Vertriebssystem aufgebaut, die Zeitung lag kostenlos öffentlich aus.

Das minimalistische Konzept funktionierte, wenn auch meist bloß irgendwie: Abhängig war man in erster Linie vom Durchhaltewillen und Enthusiasmus der Macher, nicht aber von Grosso oder Großverlag. Chaos, permanente Fluktuation und chronische Erschöpfung nahm man dafür in Kauf. Geradezu lebensnotwendig war für das Blatt der Aufbau eines Netzes von Unterstützern. Nach fünf Jahren stieg die Auflage auf 50.000 Stück, das Blatt dehnte seinen Einzugsbereich auf die Innenstadtbezirke aus. Peu à peu wurde aus einer Kiez- eine Stadtzeitung, die langsam auch von den großen Blättern zur Kenntnis genommen wurde.

Auch der Telegraph, der aus den unregelmäßig und illegal erscheinenden oppositionellen Umweltblättern zu DDR-Zeiten hervorgegangen war, produzierte kontinuierlich weiter in einer überschaubaren Nische abseits des Marktes. Mitte der 90er verjüngte sich die Redaktion – nach den DDR-Oppositionellen brachte die nächste Generation Ost neue Themen in das Blatt.

Der große Zeitungsboom, das bestätigt auch die Studie des Innenministeriums, währte jedoch nur bis 1991. Auch für den Anzeiger und Die Andere wurde es eng. Hatte Die Andere noch Anfang 1990 eine Auflage von 100.000 erreicht, dezimierten sich die Zahlen ab Frühjahr 90 schnell und deutlich. Der Grund dafür war nicht nur, dass mit den Volkskammerwahlen von 1990 politische Weichen gestellt wurden, die der Niemandslandstimmung bald die pragmatische Ernüchterung folgen ließen.

Buntes aus dem Westen

Hinzu kam, dass nach der Weichenstellung nicht nur Lkw-weise Bananen eingefahren wurden, sondern auch zentnerweise bunt bedrucktes Papier von den Lkws aus verteilt wurde. Die Währungsunion brachte das nächste Problem: So zögerlich, wie nach dem 1. Juli 1990 zunächst die unbekannte, kostbare Westmark in den Kneipen für profanes Bier ausgegeben wurde, verhielt man sich auch am Kiosk: Westmark für eine Ostzeitung?

Der vom Eingehen bedrohte Anzeiger fusionierte mit der Anderen (nunmehr mit dem Untertitel: „Anzeiger für Politik, Kultur und Kunst“), bevor auch diese 1992 aufgeben musste. „Rein ökonomisch, vom Verlegerstandpunkt aus gesehen, war es natürlich ungeschickt, so viele Projekte auf einmal zu machen“, meint Klaus Wolfram heute. „Aber wir haben ja nicht als Verlag, sondern als ‚politische Mittäter‘ angefangen, die sich um eine eigene Öffentlichkeit bemühten, die es eben nie gab und die eine dritte Öffentlichkeit war: Nicht die abgeschlossene der DDR und auch nicht die inhaltsarme der Bundesrepublik. Und es war etwas Positives, zu sehen, wie viel publizistische Kraft in den Gruppen steckte, die wir dabei kennen lernten. Deshalb würde ich auch heute noch sagen, es war doch richtig.“

Der Forschungsbericht des Innenministeriums konstatierte 1997 eine „beispiellose Verödung der ostdeutschen Presselandschaft“ nach 1991. Als Verursacher benennt die Studie vor allem die Treuhandanstalt, die mit dem Verkauf der SED-Bezirkspresse an westdeutsche Großverlage Oligopole privatisiert habe. Aber auch das Verschwinden der kleinen Zeitungen, die im nun einsetzenden Dumping nicht mithalten konnten, dünnte den Markt aus. Ironie der Geschichte, dass zum Schluss bei den Tageszeitungen im Wesentlichen die ehemaligen SED-Bezirksblätter übrig blieben – nun privatisiert und in der Hand westdeutscher Großverlage. 1996 gab es im Osten wieder exakt so viele Zeitungsverlage wie 1989, nämlich 36. 1991 waren es noch 51 gewesen. Ob die Mitarbeiter ein ernsthaftes Interesse gehabt hätten, ihren eigenen Laden zu übernehmen, weiß niemand. Bislang hat keine Befragung die angebrachten Zweifel daran ausgeräumt.

Klaus Wolfram glaubt, dass die „monopolisierte Einfalt“ – so der Wortlaut im Forschungsbericht des Innenministeriums – letztlich auch die zunehmenden rechtsextremen Tendenzen im Osten begünstigt habe. „Wortreich, aber sprachlos“, beschreibt er die neue Medienlandschaft. Eine Gesellschaft, die dringend innerer Klärung bedurfte, aber inzwischen jeglicher eigener Medien als Mittel der Selbstverständigung und Öffentlichkeit beraubt sei, biete auch Nährboden für den braunen, autoritären Sumpf.

Die Männer in den dreiteiligen Anzügen kamen. Die Einheit bahnte sich an. Der Telegraph erscheint – eher unregelmäßig – vierteljährlich. Der scheinschlag feiert im November sein zehnjähriges Bestehen. Und der BasisDruck-Verlag hat eine neue Waffe: Sie heißt Der Gegner.