Renaissance der Murmel

Ein altes Kinderspiel kehrt wieder: Sächsische Snippers, südwestdeutsche Klickerkünstler und Köstritzer Schwarzmurmler wetteifern um die Titel bei den 5. Deutschen Murmel-Meisterschaften

aus Ludwigshafenvon GÜNTER ROHRBACHER-LIST

Andreas vom Rothenbarth von den Köstritzer Schwarzmurmlern aus Erfurt ist Märchenerzähler. Die Geschichte, wie er bei einem Urlaub in England zum Murmeln kam, ist aber kein Märchen. Ein Jahr nach diesem einschneidenden Erlebnis machte sich der Thüringer erneut auf in Richtung Insel und kam mit reichlich Sportgerät zurück, nachdem er das Versprechen abgegeben hatte, beim nächsten Mal mit einer Mannschaft anzureisen.

„Es waren drei“, sagt der 43-Jährige mit berechtigten Stolz, denn wie im Westen Deutschlands war auch in der DDR das Spiel mit den Murmeln oder Klickern, wie man im Süden sagt, tot. In den 60er-Jahren wurden die letzten Schulhöfe gepflastert, immer mehr Straßen gebaut, so dass kein Platz mehr war für eine Kuhle. Der Asphalt hatte das Murmelspiel zur Strecke gebracht. Erst in den frühen 90er-Jahren begannen Grundschulkinder, wieder Murmeln zu sammeln, aber nicht zum Spielen, sondern zum Anschauen und zum Tauschen.

1996 veranstalteten die Köstritzer die ersten Deutschen Meisterschaften, derweil in Ludwigshafen-Friesenheim ein paar ahnungslose Klickerspieler noch glaubten, sie seien die einzigen weit und breit, die dieser Disziplin frönten. Es war ein Reporter des Südwestfunks, der die pfälzische Idylle jäh zerstörte, als er bei Rüdiger Müller, dem Ludwigshafener Chefmurmler, anfragte, ob denn die Friesenheimer auch bei diesen Meisterschaften starten würden. Die Drähte glühten daraufhin und zum Erstaunen aller stellte sich heraus, dass es nicht nur in den neuen Bundesländern, sondern auch hoch im Norden von Rheinland-Pfalz, in Kirchen, seit 1972 einen Klickerverein gab.

Flugs reiste man hin, sah sich um, schmiedete nach der Rückkehr kühne Pläne, und schon im August 1999 konnte das Murmelstadion im Friesenheimer Friesenpark eingeweiht werden – dort, wo früher ein Friedhof war, der alle falsch platzierten Bomben im Zweiten Weltkrieg abbekam, die eigentlich der BASF galten. Nach dem Krieg war das Areal wegen der vielen Bombentrichter nicht mehr als letzte Ruhestätte geeignet.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der 5. Deutschen Murmel-Meisterschaft aus Ost und West scherten sich nicht um diese Vergangenheit, sondern widmeten sich sofort ihrem Vergnügen, dem Spiel mit der Murmel und dem regelmäßigen Schluck aus dem Bierseidel. Obwohl es ziemlich heiß war, blieb die Konzentration trotz immensen Konsums schwarzer und heller Gerstensäfte gewahrt. Und die Regeln sind zumindest beim deutschen Lochspiel ja auch einfach: Spieler gegen Spieler mit je drei Murmeln in Richtung Kuhle, ganz wie früher auf dem Schulhof. Und immer muss der Wille zum Einlochen erkennbar sein.

Das Englische Ringspiel, das die Sachsen und Thüringer von den Europameisterschaften aus Tinsley Green/West Sussex mitbrachten, ist da schon komplizierter. 49 Murmeln werden auf einer runden, mit feinstem Sand leicht bestreuten Scheibe aus Beton platziert, und das Team, das zuerst 25 Murmeln von der Platte gejagt hat, darf jubeln.

In Ludwigshafen-Friesenheim jubelten beim Ringspiel, wie Andreas vom Rothenfels vorausgesagt hatte, die Saxonia Globe Snippers aus Chemnitz, die am Abend zuvor, frustriert vom 1:2 des Chemnitzer FC im DFB-Pokal beim KSC, aus Karlsruhe angereist waren. Alexander Hildebrandt (17) war der große Sieger bei den Sachsen, denn der junge Mann mit den grün gefärbten Haaren wurde sowohl Mannschaftsmeister mit 25:21 Murmeln als auch Einzelmeister. 24 Murmeln knipste er von der Platte, ohne dass seine Schussmurmel, der Tolley, auch nur ein Mal das Rund verlassen hätte. Eine schob er nach, der Rest der Spieler war ohne Chance. Warum er das Spiel mit der Murmel betreibt und nicht im Strandbad liegt? „Weil ich hier Leute treffe, denen das Murmeln genau so viel Spaß macht wie mir!“

Dabei tobt zwischen den Saxonia Globe Snippers, die sich grün in ihren Landesfarben anmalen, eine Fahne schwingen und es manchmal mit dem Support etwas übertreiben, und den Köstritzer Schwarzmurmlern aus dem Nachbarbundesland eine massive Rivalität am Betonkreis. Kleinere Sticheleien sind an der Tagesordnung. Doch man respektiert einander. „Die Chemnitzer waren früher in England als wir, die sind im Spiel besser“, sprach der Märchenerzähler aus Erfurt die Wahrheit.

Überhaupt kein Favorit war das Team des 1. Kirchener Klickervereins mit den „Veteranen“ Heinz Kipping, Martin Jährig, Annette Strehlow und Roswitha Schäfer. Sie setzten sich jedoch, weil sie konzentriert und diszipliniert, trotzdem locker drauf waren, überraschend gegen die jugendliche Konkurrenz des 1. MSC Schmiede Friesenheim, wo sogar eine Neunjährige antrat, durch und sangen („Klickersport, der macht viel Spaß!“) anschließend frohe Lieder aus dem Westerwald.

Und irgendwie war ihr Sieg auch gerecht. Denn Roswitha Schäfer hatte ihrem Mann Werner das schönste Murmelsäckchen des gesamten Friesenparks genäht, ganz in rot mit weißen Klickern drauf. Dass es zehn Jahre alt ist, sah man ihm schon an, und dass es viel(e) Murmel-Geschichte(n) erlebt hat, auch.

Hinweis:Obwohl es heiß war, blieb die Konzentration trotz immensen Konsums schwarzer und heller Gerstensäfte gewahrt.