die stimme der kritik
: Betr: Coolkids, Klapperstörche, Kuschelratten

Alles wird immer anderser

Früher, als Zukunft noch als unheimlich galt, war ziemlich alles ziemlich anders. Vor allem bei denen, die am meisten Zukunft vor sich hatten: den Kindern. Sie kuschelten sich an ihre Lieblingstiere, ob lebendig oder von Steiff, und suchten Trost vor des Lebens grausligen Unwägbarkeiten. Bald wusste der Nachwuchs zwar nicht mehr Pferd von Kuh zu unterscheiden, aber mit drei Jahren schon locker einen Ford Taunus von einem Opel Rekord. Das fanden wir noch putzig; Pädagogen indes mahnten schon damals.

Heute ist alles noch anderser geworden. Das Kind als solches ist aller Zeit voraus: Schon Sechs- bis Achtjährige surfen vorbildlich durch alle globalen Netzwelten und zeigen der verständnislosen Mama, was der doofe Papa wieder alles falsch macht. Das beeindruckt. Das wirkt klug. Unsere Kinder, unsere Zukunft! Aber wehe., die Coolkids haben ein leibhaftiges Kuscheltier vor sich. Erschrocken vernehmen wir den Alarm aus dem Aachener Tierpark: „Immer mehr Kinder reagieren ängstlich oder sogar panisch, wenn sich ihnen auf unseren Streichelwiesen Schafe und Ziegen nähern. Immer weniger Kinder können Tierverhalten richtig deuten.“ Grund: wachsende Entfremdung. Folge: Angst! Panik! Stress!

Gegen die unberechenbare Kreatur hilft kein noch so naturidentischer Mausklick, kein Update oder Download, sondern nur die direkte Konfrontation Aug in Aug, Fell an Haut. Und so lädt der Tierpark zu „Angst-Abbau-Tagen“: Da lernen die Kids das artenübergreifende Berühren von Schafen, das Kuscheln mit zahmen Ratten („Paul und Pauline“) und bei Erfolg die Annäherung an eine Königspython. Ganze Schulklassen und Kindergartengruppen sollen sich anmelden. Da staunt der Ziegenbock. Und die Lokalzeitung jubelt: „Kinder werden behutsam an die Natur herangeführt.“

Zudem hat sich Aachens Zoo echte schottische Moorhühner zugelegt. Nicht nur Kids waren von deren Existenz jenseits des Bildschirmballerns überrascht – sondern auch der Erfinder des PC-Spiels: „Ich bin ganz erschrocken, dass ein echtes Moorhuhn so klein und putzig aussieht.“ Überraschender Lernerfolg: „Es erinnert mich an Hamster.“ Ja, mit Aachener Tierparkpädagogik kann die Zukunft gelingen – wenn unser Nachwuchs jetzt noch kapiert, dass Ketchup in Flaschen wächst, Ananas in Konservendosen reift und Milch in Tetrapak-Kartons aus der Kühe Euter purzelt. Zurück zur Natur! Schließlich sind alle Kinder einmal vom Klapperstorch gebracht worden. BERND MÜLLENDER