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: HELMUT HÖGE über Komplexität

Umgekehrt wird ein Spezialschuh draus

Es ist absurd und müsste eigentlich genau andersherum laufen: Je älter man wird, desto komplexer gestaltet sich das Leben: die Schlüsselbunde werden immer dicker, man braucht eine Brille, womöglich noch ein Hörrohr, eine Tablettendose, einen Rasierspiegel, und und und. Schon ein kleiner Spaziergang erfordert komplizierteste Reisevorbereitungen. Am besten man macht sich einen Zettel und hakt alles ab. Die moderne Technik hilft da auch nicht weiter. Der Vater einer Bekannten von mir zog auf seine alten Tage nach Mallorca. Er hat viele Freunde – und deswegen ein dickes Adressbuch. Nachdem er es mehrmals verloren hatte, legte er sich ein elektronisches Notebook zu. Dieses steckte er in seine Jeanstasche – und setzte sich prompt drauf: Alle Adressen waren futsch. Das zweite steckte er in sein Jackett. Einmal bückte er sich am Strand – und es fiel raus ins Wasser: wieder waren alle Adressen weg. Seitdem überträgt er laufend seine Daten in den Computer seiner Tochter in Berlin – und behandelt sein drittes Notebook wie ein Diadem: Abends wird es sorgfältig in den Sekretär eingeschlossen.

Manchmal funktioniert sein Haus-Telefon nicht. Dann geht er ins Dorf und telefoniert – mit Telefonkarte – von einer Zelle aus. Neulich musste er derart einen kleinen Text durchgeben. In der Telefonzelle packte er alles aus, Notebook, Brillenetui, nahm die Papiere aus einer Klarsichthülle – und fing an. Alles klappte. Er war hochzufrieden – vergaß jedoch das Notebook in der Zelle. Als er eine Stunde später zurückkam, war es weg. Jetzt hat er zwar wieder ein neues – und seine Tochter schickte ihm auch die Adressen dafür, aber er steht trotzdem noch unter Schock, denn in der letzten Zeit häufte es sich, dass er Sachen vergaß oder liegen ließ.

Vorige Woche war ich im Hotel „Chez Nous“ am Gendarmenmarkt verabredet. Neben uns saß ein weißhaariger Wirtschaftsführer und telefonierte die ganze Zeit angestrengt. Schweiß trat ihm auf die Stirn und er stotterte. Nachdem er aufgelegt hatte, legte er Geld auf den Tisch und verschwand. Zurück blieben sein Mantel und sein Notebook. Ich wollte ihm schon nachlaufen, da kam er aber schon selbst zurück – schnappte sich seinen Mantel und ging wieder. Erneut wollte ich ihm nachlaufen, mit dem Notebook in der Hand – da kam er aber noch einmal zurück und schnappte sich seinen kostbaren Zeitplaner. Der Kellner stellte hinterher fest, daß der Gast mit – wertlosem – lettischem Geld gezahlt hatte. Er zerknüllte es lässig und ließ es in den Aschenbecher fallen. Dieser Geschäftsmann war der neuen Ökonomie nicht gewachsen, da waren der Kellner und wir uns sofort einig. Oder jedenfalls zeigte er eindeutige Schwächemomente.

Aber der auch nicht mehr ganz junge Kellner zeigte dann kurz darauf ebenfalls eindeutige Schwächezustände: Die vom Gast am Nebentisch verzehrten Grappas und Kaffees hatte er kurzerhand auf unsere Rechnung draufgeschlagen. Mein Gesprächspartner und ich, beide ebenfalls schon in reiferem Alter, beschlossen, uns diese „Unkosten“ einfach solidarisch zu teilen. Mein Gesprächspartner trug ein Hörgerät. Er hatte die dumme Angewohnheit, das Ding, wenn unser Gespräch mal nicht von lauten Außengeräuschen gestört wurde, abzunehmen und auf den Tisch zu legen. Auch er vergaß es dann beim Abschied einzustecken. Ich vergaß dafür meine Notizen, die ich mir während des Gesprächs mit ihm gemacht hatte, außerdem ließ ich auch noch eine Fotokopie liegen, die mein Gesprächspartner mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit – zögerlich – zugesteckt hatte. Als ich spätabends noch einmal zurückkam, um meine verlorenen Unterlagen im Lokal abzuholen, war mein Gesprächsparter mir bereits zuvorgekommen. Neben seinem Hörgerät hatte er auch meine Papiere an sich genommen, dazu seine Fotokopie.

Ich vergaß dann wiederum, mich in den darauffolgenden Tagen bei ihm zu melden – und jetzt ist es bereits zu spät: Er wird mich für vergesslich und unzuverlässig halten. Diesen Eindruck möchte ich vermeiden.