Ich aber bringe euch den Übermenschen

Rückkehr der Supermänner – oder Bryan Singer hat ein wenig philosophiert, bevor er das übliche Action-Spektakel um die „X-men“ auf die bekannten Schienen setzte. Wenn also Xavier Martin Luther King ist, ist Magneto Malcolm X.

Und da sich der Todestag Nietzsches zum hundertsten Mal jährte, sprach der Regisseur Bryan Singer: Was hat Hollywood zur Überwindung des Menschen getan? Nichts! Ich aber bringe euch den Übermenschen. Nein, lieber gleich mehrere. Sie sollen besser sein als ihr alle und komische Sachen machen. Also begann Singers („Die üblichen Verdächtigen“) Aufstieg zum König der Blockbuster.

In berechtigter Erwartung grandioser Merchandising-Gewinne hat er nun die bunten Hefterln des „X-men“-Comic-Klassikers aus dem Hause Marvel (Super-, Bat- und Spiderman) verfilmt. Interessanterweise philosophierte er, bevor das üblich-dröge Action-Spektakel seinen Lauf nimmt, tatsächlich ein bisschen. Über Dinge, die Mutanten wie die „X-men“ nun mal umtreiben: Mehrheit und Minderheit, Ähnlichkeit und Differenz, Individuum und Gruppe. Damit war bereits die Vorlage wesentlich sympathischer als ihre diversen Vorgänger. Mit gutem Willen kann man sie als Reflex auf die Bürgerbewegung der Sechziger lesen.

Jeder X-Mann, und jede X-Frau, kann etwas anderes. Die eine beherrscht Telepathie und Telekinese, der andere bohrt mit seinem Laserblick Löcher in Metall. Ein Kerl namens Storm manipuliert das Wetter, Toad fährt seine Zunge aus wie ein Frosch. Weil man durch solches Verhalten aber unangenehm auffällt, und die minderbemittelte Mehrheit bereits die Messer wetzt, tun die Supermenschen etwas, das Batman und Superman nicht taten: Sie schließen sich zusammen.

In der geheimen Ausbildungsstätte des weltbesten Telepathikers und Gutmenschen Professor Xavier lernen sie, ihre Fähigkeiten zum Wohle der Menschheit einzusetzen: ein Korporatismusmodell à la Star Trek, dem folgerichtig Patrick Stewart als Xavier vorsteht. Xavier ist gelähmt, das Nummernschild seines Wagens ziert ein kleines Rolli-Symbol, für den Behindertenparkplatz. Die mannigfachen Fähigkeiten seiner Helden, die auch immer unter einer besonderen Schwäche leiden, interpretiert „X-men“ als individuelle Abweichung von der Norm. Ein Dorn im Auge der Masse. So weit ist das von Nietzsche gar nicht entfernt. Vielleicht könnte man es so drehen: „X-men“, Comic und Film, ist eine ebenso krude und flippige Version des „Zarathustra“ wie David Bowies „Hunky Dory“. Gotta make way for the homo superior.

Der Kampf Gut gegen Böse, um den es in diesem Genre natürlich gehen muss, findet an zwei Fronten statt. Da ist ein zähnefletschender Politiker, der auf dem Rücken der Mutanten Punkte machen will, sie als Bedrohung brandmarkt und ihre Internierung fordert. Und da ist, im eigenen Lager, der große Magneto, seines Zeichens Generator blitzezuckender Energiefelder. Der Gegenspieler Xaviers leitet aus der Unterdrückung die fixe Idee ab, die Welt beherrschen zu wollen. Wenn Xavier Martin Luther King ist, ist Magneto Malcolm X.

Weil er von Stewards Kollegen von der Royal Shakespeare Company Ian McKellen („Richard III.“) gespielt wird, wollen wir mal vergessen, dass sich der Film zur Erklärung seiner, Magnetos, sozialdarwinistischen Ansichten einen gehörigen Lapsus leistet: er war als Kind in einem deutschen KZ. Außer dieser Schnapsidee und der fulminanten Besetzung in der Doppelspitze hat „X-men“ in der zweiten Hälfte nichts Neues zu bieten.

Das Filmdesign rekurriert nicht auf die opake Comic-Ästhetik von „Dick Tracy“ oder „Batman“, sondern auf reichlich abgenutzte Sci-Fi-Muster. Unter seinem idyllischen Landsitz unterhält Xavier ein in aseptischem Mattsilber gehaltenes Labyrinth von Laboratorien. Hierdurch jagen sich nun türenschlagend die feindlichen Mutanten und machen sich im OP wieder gesund. Wie schon tausendmal gehört klingt denn auch der Soundtrack: als ob sich der Filmkomponist mit einem Aufnahmegerät stundenlang in einen Liftschacht gestellt hätte. Tür auf. Rumms. Tür zu. Rumms. Nach so viel Gerummse ist man dann doch froh, wenn sich die neuen Menschen, diese Bindeglieder zu einer neuen Stufe der Evolution, auf der Freiheitsstatue um die Weltformel balgen. Wenn Hollywood die letzten Überwältigungsstrategien auspackt, ist der Film bald zu Ende. Dass Magneto und Xavier noch eine Fortsetzung des Kampfes ankündigen, ist wirklich übermenschlich überflüssig.

PHILIPP BÜHLER

„X-men“, Regie: Bryan Singer. Mit: Hugh Jackman, Patrick Stewart, Famke Janssen, USA 2000, 104 Min.